Vor kurzem war ich in Ägypten. Zur Vorbereitung auf meine Reise hatte ich meinen ägyptischen Freund Hamed Abdel-Samad gebeten, mich mit säkularen ägyptischen Autoren und Aktivisten bekannt zu machen. Hamed versprach, mir noch vor meiner Abreise einige Namen ihm vertrauter ägyptischer Intellektueller zukommen zu lassen. Erhalten habe ich von ihm allerdings lange Zeit nichts. Erst zwei Tage vor Antritt meiner Reise schickte er mir eine kurze Nachricht: «Wenn du in Kairo ankommst, musst du unbedingt das Merit-Verlagshaus besuchen, in der Nähe des Tahrir-Platzes. Dort wirst du Mohamed Hashem treffen, den Gründer des Verlags.»
Hamed hat eine besondere Beziehung zu diesem Verlagshaus. Seine Bücher, einschliesslich des kontroversen «Der islamische Faschismus» mit all seiner Kritik gegenüber Mohammed und dem Islam, wurden von Merit auf Arabisch publiziert – und das, ohne dass der Inhalt in irgendeiner Weise zensiert worden wäre.
Merit hat sich in den letzten Jahren einen Namen gemacht. Viele mittlerweile berühmte ägyptische Autoren haben da ihre Werke erstmals veröffentlicht, so etwa Alaa al-Aswani, dessen Werke in 31 Sprachen übersetzt wurden, oder der Dichter und Liederschreiber Ahmed Fouad Negm, dessen revolutionäre und patriotische Texte von den Revolutionären Ägyptens und vieler anderer Länder des Arabischen Frühlings gesungen wurden.
Lockere Stimmung
Es ist 22 Uhr. Ich stehe vor dem Verlagshaus, nur wenige Schritte vom Tahrir-Platz entfernt, jenem Platz, auf dem 2011 die ägyptische Revolution ihren Anfang nahm, und trete ein. Die Haupteingangstür schliesst sich nie, sogleich dringen Stimmen an mein Ohr. In den Verlagsräumlichkeiten läuft es rund. Jeder, der sich für Literatur, intellektuelle Debatten oder sogar Fussball interessiert, ist hier willkommen.
Ich kann einige bekannte Gesichter erkennen – Dichter, Autoren, Aktivisten. Auch viele junge Leute, die darauf brennen, ihren ersten Roman zu veröffentlichen, drängen sich um die Bücherregale. Hierarchien gibt es hier keine. Jeder sitzt da, wo es ihm beliebt, raucht billige Zigaretten oder trinkt ein ägyptisches Stella-Bier. Das Gerauchte vermischt sich mit dem guten Duft, der aus der Küche kommt, wo gerade ein Fleischgericht gekocht wird.
Hashem nimmt einen Stuhl, damit ich mich gleich neben ihn setzen kann. Er heisst mich herzlich willkommen, und jedes Mal, wenn er mich jemandem vorstellt, sagt er: «Das ist mein neuer Freund Kacem, ein schweizerisch-marokkanischer Autor, der gegen den politischen Islam kämpft.» Daraufhin erwähnt er zuverlässig, dass ich ein Freund von Hamed Abdel-Samad sei.
Hamed wird in diesem Verlag nicht wie ein gewöhnlicher Mann behandelt. Sein Bild hängt an der Wand in einem der Büros. Viele liberale ägyptische Denker sehen ihn als Aufklärer, als ikonische Stimme der Freiheit. Das steht in komplettem Widerspruch dazu, wie Hamed und andere Islamkritiker von vielen linken Feuilletonisten in Europa wahrgenommen werden – als Verächter der Muslime, oder gepflegter: als Islamphobe.
Weg mit dem Hijab
Dann diese Szene: Eine junge Frau in ihren Zwanzigern betritt das Verlagshaus. Mit ihrer rechten Hand nimmt sie sofort ihren Schleier ab, während sie mit ihrer linken nach einem Bier aus Hashems Büro greift. Sie lässt sich auf die Couch fallen und wirft die Kopfbedeckung auf den Boden.
Die junge Dame steckt den Schleier also nicht etwa in die Handtasche, sondern sie scheint ihn gleich ganz loswerden zu wollen. Sie wirft ihn genauso weg, wie die Menschen in Kairo ihren Müll auf die Strasse entsorgen. Die Szene ist mir trotz ihrem seltsamen Charakter äusserst vertraut, erinnert sie mich doch an die alte arabische Tradition, die aus der Dichtung bekannt ist: Tagsüber leben die Menschen unter den Einschränkungen von Religion und Gesellschaft, doch in der Dunkelheit der Nacht gibt es Poesie und Wein. Dann folgt die Zeitspanne, in der sie sich von all den Einschränkungen des Tages lösen und die wunderbaren Momente in vielen wunderschönen Gedichten festhalten.
Diese junge ägyptische Frau ist eine von Millionen, die auf den ersten Blick harmonisch mit ihrem gesellschaftlichen Umfeld leben. Doch sobald sie das Merit-Verlagshaus betritt, wird sie zu einer Rebellin oder, wie ihre Freunde sie gerne nennen, zu einer Verbündeten. Diese spezielle Geschichte trotzt den Ansichten vieler westlicher Linker über die muslimischen Gesellschaften, wonach muslimische Frauen verschleiert durchaus glücklich sind.
Oft wurden solche Frauen von westlichen Intellektuellen als nützliche Idioten der Rechten, die die muslimische Kultur hassen, hingestellt. In ihrer eigenen Gesellschaft werden sie jedoch als Abtrünnige, die die Familienehre beflecken, betrachtet. Das ist eine ziemliche Kluft – der moralisierende Blick mancher wohlbehüteter Intellektueller vernebelt offensichtlich deren Sicht.
Pariser Aufklärungssalon in Kairo
Merit ist ein sicherer Raum inmitten einer erzkonservativen, illiberalen Gesellschaft, in der die Tyrannei gesellschaftlicher und religiöser Zwänge herrscht. Dieser Raum hat allerdings nichts mit der amerikanischen Erfindung von Safe Spaces zu tun, in denen die Gedanken- und Ausdrucksfreiheit unter dem Vorwand bekämpft wird, die Gefühle von Farbigen und Minderheiten könnten dadurch verletzt werden. Merit ist vielmehr ein echter Freiraum, in dem jeder – ungeachtet seiner Hautfarbe, Ethnie oder Religion – herzlich willkommen ist, sofern er bereit ist, offen zu reden. Hier gibt es keinen Schutz vor Verletzungen – hier gibt es bloss Schutz vor der Tyrannei der Zensur.
Damit ähnelt Merit den Aufklärungssalons in Paris in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Auch sie waren Orte des kulturellen Austauschs und der Religionskritik, in denen die Leute keine Angst davor haben mussten, wegen ihrer Ansichten belangt zu werden. Leider weigern sich viele westliche Intellektuelle, sich dieses Bild auch nur vorzustellen. Viele von ihnen scheinen die eigene Kultur der universalen Menschenrechte zu verachten und überhöhen die muslimischen Gesellschaften unter dem Banner eines letztlich menschenverachtenden Kulturrelativismus: Was für die Ägypter oder Marokkaner gut ist, müssen diese selber entscheiden. Das lässt sich aus sicherer Distanz leicht sagen und ist ein Hohn auf all jene, die in den arabischen Ländern unterdrückt werden.
Der syrische Autor Sami Alkayial beschreibt diese Haltung treffend als «Narzissmus westlicher Intellektueller», für die der alte koloniale europäische Mann der einzige Akteur in der Geschichte war. Denn die grosse Schuld kann nur tragen, wer auch allein verantwortlich war – dabei handelt es sich eigentlich um eine auf den Kopf gestellte Allmachtsphantasie. Ein aufgeklärter Orient ist für solche westliche Narzissten schlicht undenkbar – und das westliche Selbst ist «aufgrund der Anerkennung seiner Schuld» ohnehin «moralisch überlegen». Was für eine verrückte Welt.
Kinder der Revolution und ihr Vater
Wie die Pariser Aufklärungssalons, die Teil der Französischen Revolution waren, ist Merit ebenfalls ein Ort, an dem politische Theorien leidenschaftlich debattiert werden. Es verwundert daher nicht, dass es während des Arabischen Frühlings in Ägypten eine ebenso wichtige Rolle spielte wie die Salons am Ende des 18. Jahrhunderts.
Hamed Abdel-Samad hat dies hautnah miterlebt und erzählt von der Rolle des Hauses während der Mobilmachung für die Revolution: Hier waren die revoltierenden Künstler und Aktivisten, die die Protestbanner schrieben, daneben sassen die Kameraden, die die Slogans und die Forderungen der Revolution skizzierten. «Das war nicht nur ein Verlagshaus, sondern eine revolutionäre Kommune», sagt Hamed.
Er erinnert sich gut an die Tage, die er dort verbracht hat, als die Rebellen und Journalisten im Haus schliefen und er jeden Tag früh mit Mohamed Hashem aufwachte, um für die noch schlafenden Freunde in den Strassen Kairos Bohnen-Sandwiches aufzutreiben. Hashem nennt sie manchmal seine Töchter und Söhne, andere Male die Söhne der Revolution.
Merit wurde vor zwanzig Jahren gegründet, und diese Gründung war eine Kulturrevolution in Sachen Buchverlag und Redefreiheit in der arabischen Welt. Hashems heutige Lage unterscheidet sich freilich kaum von der damaligen. Einerseits leidet er unter Ausgrenzung und Verfolgung durch die Militärdiktatur, die die Träume der Revolutionäre zunichtemachte.
Andererseits ist er zur Zielscheibe islamischer Fundamentalisten geworden, die sein kulturelles Aufklärungsprojekt zu zerstören versuchen.
Es gab einige Fatwas und Todesdrohungen von nichtstaatlichen religiösen Gruppen wie der Al-Azhar Scholar Front, die den Verlag zur Brutstätte der Abtrünnigen erklärten. 2016 schickte ihm die ägyptische Steuerdirektion eine Rechnung über knapp 2 Millionen ägyptische Pfund, obwohl er bloss einen Bruchteil dieser Summe umgesetzt hatte. Auch heute noch verwehren ihm die ägyptischen Behörden das Recht zu reisen, um an internationalen Buchmessen teilzunehmen.
Hashem sieht das als Preis für die liberale redaktionelle Ausrichtung des Verlags und ist bereit, ihn zu bezahlen. Er fügt sogar hinzu, dass er stolz sei, sich gegen den islamischen Faschismus zu stellen und «eine der Quellen für die Anstiftung zur Freiheit» zu sein.
Merit, die Frauen Irans, die liberalen Aktivisten Saudiarabiens und alle Freunde der Freiheit in der muslimischen Welt konfrontieren uns mit einem beunruhigenden Paradox: Wir leben in einer Zeit, in der die Stimmen der westlichen sogenannten Progressiven immer lauter werden, um Kunst und Literatur zu zensieren. Sie tun dies mit dem Vorwand, dies habe aus Respekt vor den Einstellungen und Gefühlen sensibler Menschen zu geschehen. Derweil melden sich in der islamischen Welt immer mehr mutige Stimmen, die sich sämtlichen Formen der Zensur, Schikane und der Überwachung entgegenstellen.
Man hat als Ex-Muslim, der im Westen wohnt, den verrückten Eindruck: Die muslimische Welt kämpft, der Westen kapituliert.
Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen