Die Linke gibt vor, für Minderheiten zu kämpfen. Eine Minderheit erhält aber nur dann ihre Aufmerksamkeit, wenn sie den «richtigen Unterdrücker» hat: Rechte und Reiche, Imperialisten und Kapitalisten. Da bleibt kein Platz für muslimische Islamkritiker.
Es gibt eine Stimme, die den regressiven Linken lästig ist und der sie partout kein Gehör schenken wollen. Denn sie würde ihre Naivität entlarven. Es handelt sich um die Stimme der Minderheit innerhalb der Minderheit.
Die Linke lässt keine Gelegenheit aus, Solidarität, Toleranz und Vielfalt zu beschwören und sich als Hauptverteidigerin der religiösen und ethnischen Minderheiten in Europa darzubieten, doch diese Solidarität unterliegt einem engmaschigen ideologischen Kalkül. Denn gemäss linker Definition kann der Status einer unterdrückten Minderheit, die es wert ist, verteidigt zu werden, nur dann erhalten bleiben, wenn der Unterdrücker der politische Gegner ist: also die Rechten. Ist der Unterdrücker jedoch eine Minderheit, die einen Teil ihrer Mitglieder aufgrund religiöser oder geschlechtlicher Motive verfolgt, stecken viele Linke den Kopf in den Sand.
Zensieren statt thematisieren
Bei ihrer Verteidigung eingewanderter Minderheiten verlässt sich die Linke auf vielerlei Strategien, darunter insbesondere Zensur und Fehlinformationen. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die Entscheidung des Stadtzürcher Sicherheitsvorstehers Richard Wolff (al.), die Nationalität von Tätern und Opfern in Polizeimeldungen nicht mehr zu veröffentlichen, weil die bisherige Praxis diskriminierend sei. «Es wäre falsch, fremdenfeindlichen Menschen mit der Nationalitätennennung Futter zu liefern», sagt Wolff überzeugt.
Leider verwechseln auch viele Linke Kritik am Islam und an dessen patriarchalem System mit Bigotterie gegenüber Muslimen.
Dass etwas «den Rechten in die Hände spielen könnte», ist längst zu einem Totschlagargument in jeder politischen Debatte geworden. Ich erhalte selbst oft Mails von «besorgten Linken», in denen sie mich fragen, ob ich denn nicht Bedenken hätte, dass mein Engagement für die Religionsfreiheit in der muslimischen Welt irgendwie von den Parteien des rechten Spektrums ausgenützt werden könnte.
Ein politisch korrekter Mustermuslim
Viele Linke wollen nicht die Verfolgung von religiösen und sexuellen Minderheiten im Islam bekämpfen, sondern den Vorwurf gegen Muslime, dass sie religiöse und sexuelle Minderheiten diskriminieren. Sie glauben, dass das Benennen Munition liefern könnte, die schliesslich gegen Muslime eingesetzt werde. Denn dieser Vorwurf könnte zur Ablehnung eines ganzen Kollektivs führen und den Rechten Propagandamaterial liefern – und das muss präventiv verhindert werden. Hier schlägt ein Verhaltensschema, das sich von der «Islamophobie der Rechten» abzugrenzen sucht, in die verständnisvolle Duldung diskriminatorischer Haltungen durch Muslime um.
Dieses Verhaltensschema hört mit dem Ignorieren und Verschweigen von Fakten allerdings nicht auf. Tatsächlich geht es mit einem durchaus perfiden Plan weit darüber hinaus einher: Es wird der Versuch unternommen, einen Mustermuslim zu schaffen, der für den politischen und den medialen Konsum geeignet ist, um der «Propaganda des rechten Flügels» Paroli zu bieten. Ein islamisches Stereotyp, das sich den Regeln der Political Correctness beugt und den friedfertigen Islam beschwört, als ob der politische Islam eine Erfindung wäre. Diesem Mustermuslim öffnen die Medien und die Hauptquartiere der linken Parteien ihre Türen, damit er die «ignoranten islamophoben Europäer» über den Islam und dessen Friedfertigkeit belehren könne.
Eine solche Mustermuslimin ist die türkische Bloggerin Kübra Gümüşay, die von den Frauen der Sozialdemokratischen Partei als Hauptreferentin zur Veranstaltung «Ein schlagkräftiger Feminismus für das 21. Jahrhundert» eingeladen wurde. Die Hijab tragende Aktivistin ist für ihre Apologie des türkischen Präsidenten Erdogan bekannt – jenes Islamisten, der Tausende seiner Gegnerinnen und Gegner, darunter viele Feministinnen, in Gefängnissen kaltgestellt hat.
Nach heftiger Kritik von türkischen Feministinnen an der Wahl der Referentin hat die SP ihre Veranstaltung mit Gümüşay eine halbe Stunde vor angesetztem Beginn abgesagt – wegen angeblicher «Terminüberschneidungen».
Eine Frage ruft nach Klärung: Weshalb laden die SP-Frauen ausgerechnet eine Aktivistin mit islamischem Hintergrund ein, die Hijab trägt und Erdogan verharmlost? Weshalb luden sie nicht eine der vielen vorbildlichen Kämpferinnen für Gleichberechtigung in der islamischen Welt ein, wie Mina Ahadi, die iranische Frauenrechtsaktivistin und Mitgründerin des Zentralrats der Ex-Muslime, oder die amerikanisch-pakistanische Bloggerin und Feministin Sarah Haider oder Maryam Namazie, die Flüchtlingsaktivistin aus London, die gegen die Todesstrafe in Iran kämpft?
Linke muslimische Islamkritiker
Sind ihnen diese Feministinnen zu wenig muslimisch? Leider verwechseln auch viele Linke Kritik am Islam und an dessen patriarchalem System mit Bigotterie gegenüber Muslimen. Dabei entstammen die meisten Islamkritiker der muslimischen Welt aus dem linken Spektrum.
Doch die regressive westeuropäische Linke schenkt den Stimmen der Minderheiten innerhalb der Minderheiten – also Ex-Muslimen, Feministinnen, Homosexuellen, Liberalen –, die unter dem Tugend- und Suizidterror des politischen Islam und ihrer konservativen Gemeinschaften zu leiden haben, kein Gehör.
Schlimmer noch: Islamkritiker müssen nicht nur wegen «Blasphemie und Ketzerei» mit Todesdrohungen und Angriffen der Islamisten rechnen, sondern auch mit Verleumdungen, Unterstellungen und Rufschädigungen. So bezeichnete die Zürcher SP-Regierungsrätin Jacqueline Fehr meine Arbeit als «gegen den Islam wettern», und Alime Köseciogullari, SP-Vorstandsmitglied im Bezirk Lenzburg, ist überzeugt, sie habe ein Recht, Ex-Muslime zu «verachten», weil «sie den Islam in den Dreck ziehen».
Eine Erfahrung, die muslimische Islamkritiker weltweit machen. Maajid Nawaz, ein Aussteiger aus der islamistischen Szene und Mitgründer des antiislamistischen Think-Tanks Quilliam Foundation, schrieb, nachdem ihn das Southern Poverty Law Center in einem Bericht als «Anti-Muslim-Extremisten» bezeichnet hatte: «Die rückschrittliche Linke ist nun in das Geschäft eingestiegen, Fatwas gegen muslimische Reformer zu erlassen.»
Ideologisches Kalkül
Es ist offensichtlich, dass die Linke ein grosses Problem hat: Ihre Solidarität unterliegt einem ideologischen Kalkül. Denn eine Minderheit erhält nur dann die Aufmerksamkeit und den Zuspruch der Linken, wenn sie den «richtigen Unterdrücker» hat, nämlich die politische Rechte oder den «westlichen Imperialismus». Dass es eine Minderheit gibt, die andere Minderheiten unterdrückt, nämlich muslimische säkulare Reformer, Feministinnen, Ex-Muslime oder LGBT-Muslime, wird ignoriert oder in Kauf genommen. Der Grund dafür mag in der sozialistischen Idee an und für sich liegen, die das Kollektiv höher wertet als das Individuum und seine freiheitlichen Rechte.
Bei der Verteidigung der Menschenrechte darf nicht die ethnische oder religiöse Zugehörigkeit im Mittelpunkt stehen, sondern einzig das Individuum. Denn diese Rechte meinen stets die Rechte einer Person, nicht einer Gemeinschaft. Diesem Umstand ist überall Rechnung zu tragen, in der Rechtsprechung genauso wie in der Politik und der Wissenschaft.
Eine Welt ohne Minderheitenfetisch wäre das Ziel. Der gegenwärtig an so vielen Orten zu beobachtende Karneval der Kulturen, der überall nur noch Minderheiten sieht, ist letztlich eine Absage an die Idee der einen Menschheit – und damit auch an die Idee der freien Menschheit an sich.
Dieser Artikel ist am 9. December 2017 in der NZZ erschienen.