Der Reflex, für alles Schlechte den Westen zu beschuldigen, ist denkbar ungeeignet, den ideologischen Kern des islamistischen Terrors zu erklären.
Der Fehler der meisten Terrorismusanalysen, gerade in Europa, das in den letzten Jahren schwer vom radikal-islamischen Terror getroffen wurde, liegt darin begründet, das Phänomen der islamistischen Gewalt meist isoliert zu betrachten.
Ein Erklärungsansatz, der sich etwa im politisch linken Lager oft grosser Beliebtheit erfreut, ist beispielsweise jener, den islamistischen Terror als Folge sozialer Ungerechtigkeit, Armut und Analphabetismus zu sehen. Ein näherer Blick auf den Bildungsstand und die wirtschaftliche Stellung vieler Personen, die sich etwa dem Islamischen Staat angeschlossen haben, offenbart jedoch ein anderes Bild:
Laut einem Bericht der Weltbank aus dem Jahr 2016 verfügen viele IS-Terroristen über eine gute Bildung und ein gutes Wohlstandsniveau. 69 Prozent haben mindestens eine Sekundarschulbildung und ein grosser Teil war sogar an Universitäten eingeschrieben, während der Anteil der Analphabeten lediglich 2 Prozent ausmachte.
Allzu simple Erklärungsansätze
Links- und rechtspopulistische Demagogen, die permanent über die westliche Aussenpolitik zu Gericht sitzen und nebenbei noch jede russische oder iranische Aggression stillschweigend durchgehen lassen, tappen derweil in dieselbe Falle irreführender Analysen, wenn sie den Westen für alle Übel auf der Welt verantwortlich machen, also auch für den islamistischen Terror.
Dieser Reflex, für alles Schlechte den Westen zu beschuldigen, ist also denkbar ungeeignet, den ideologischen Kern des islamistischen Terrors zu erklären. Und auch wenn soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit und die Aussenpolitik des Westens im historischen Rückblick bei der Entwicklung des islamistischen Terrorismus eine Rolle gespielt haben mögen und in der Propaganda und der Agitation der Islamisten und Djihadisten gegen den Westen weiterhin eine wichtige Rolle einnehmen, so verschleiert die ausschliessliche Fokussierung auf diese sozioökonomischen und politischen Faktoren doch den Blick unter anderem darauf, dass islamische Gesellschaften und ihr religiöses und politisches Umfeld weltweit weiterhin extremistische Ideologien finanziell und kulturell fördern. So etwa nebst der Türkei und Iran auch Saudiarabien, das weltweit salafistische Prediger in Moscheen finanziert.
Kommt hinzu, dass diese simplifizierenden, aus einem antiwestlichen Ressentiment entstandenen einseitigen Erzählungen von den Muslimen als Opfer, als die sie sich selber oft begreifen, den Kern der islamistischen und djihadistischen Ideologie geflissentlich ausblendet. Der gemeinsame Nenner ist über alles Trennende hinweg die djihadistische Ideologie selbst.
In den Sozialwissenschaften werden all diese einzelnen Faktoren Variablen genannt. Um den islamistischen Terror zu verstehen, müssen wir also die Frage stellen, wie diese Variablen zueinander in Beziehung stehen. Oder anders formuliert: Was ist der gemeinsame Nenner all dieser bruchstückhaften Erklärungsversuche?
Unter den IS-Kämpfern lassen sich sowohl Ingenieure als auch Bauern und Barkellner finden. Und auch wenn sie einen unterschiedlichen biografischen Hintergrund haben mögen, ist das Interessante nicht so sehr, was sie trennt, sondern was sie alle vereint.
Es ist dies die modern-antimoderne Idee, einem vermeintlich utopischen Traum zu dienen, den sie im versprochenen Islamischen Staat beziehungsweise Kalifat repräsentiert sehen. Diesem Ziel sind sie bereit, alles zu opfern – auch ihr eigenes Leben. Folglich ist der ideologische Faktor des Islamsselbst die Hauptmotivationsquelle der IS-Anhänger, unabhängig von deren Bildungshintergrund oder gesellschaftlicher Herkunft.
Kein muslimischer Gandhi
Der Islamkritiker Ufuk Özbe schrieb «der muslimische Kulturkreis neigt tendenziell weniger dazu, angesichts erlittener Ungerechtigkeit muslimische Gandhis oder Martin Luther Kings hervorzubringen, die eine relevante Masse an Anhängern hinter sich scharen. Dass dies nicht das Geringste mit den Inhalten der Religion, etwa mit den Inhalten des Korans, zu tun haben soll, ist wenig plausibel.»
Özbe stellt eine entscheidende Frage: Neigt der Islam besonders dazu, in Krisensituationen radikale Kräfte zu motivieren und ihr Vorgehen zu legitimieren?
Das soll uns jedoch selber nicht zu einer allzu simplifizierenden Herangehensweise in unserer Analyse verleiten, welche ausschliesslich dem Islam die Schuld am Terrorismus gibt. Eine solche Annahme würde schliesslich zur Schlussfolgerung führen, dass die weltweit mehr als eine Milliarde Muslime allesamt potenzielle Terroristen sind. Eine irrige Annahme, die übersehen würde, dass nicht selten Muslime ebenso Opfer islamistischen Terrors sind, wie etwa unlängst der blutigste Anschlag in der Geschichte Somalias mit über 300 Toten bewies.
Gleichwohl ist es wenig zielführend und der Erkenntnis nicht dienlich, das Offensichtliche zu leugnen oder schönzureden: dass es ein Problem mit dem Islam gibt, insbesondere bei bestimmten Texten des Korans, die Hass und Terror gutheissen.
Wir müssen akzeptieren, dass das Problem nicht nur bei der radikalen Interpretation der Texte liegt, sondern an den Texten selbst. Wir müssen diese hasserfüllten Verse debattieren. Kurzum: Wir müssen, wie dies einst Karl Marx formulierte, «Kritik im Handgemenge» üben, mit der Absicht, den Gegner «zu treffen». Vermeiden wir dies, helfen wir ausschliesslich den Extremisten.
Dieser Artikel ist am 10. November 2017 in der BaZ erschienen.