Die Forderung nach einer Reform des Islams ist inzwischen universal geworden. Es ist fast so, als würde sich alle Welt an die Muslime wenden und sagen: Bitte reformiert eure Religion, damit wir in Frieden leben können. Angesichts des islamistischen Terrors, der mittlerweile viel Tod und Leid auf den Strassen Europas verursacht hat, ist dies eine legitime Forderung.

Die Forderung nach einer Reform des Islams ist inzwischen universal geworden. Es ist fast so, als würde sich alle Welt an die Muslime wenden und sagen: Bitte reformiert eure Religion, damit wir in Frieden leben können. Angesichts des islamistischen Terrors, der mittlerweile viel Tod und Leid auf den Strassen Europas verursacht hat, ist dies eine legitime Forderung.

Sicherheitspolitisch ist zudem inzwischen klar geworden, dass der Sieg über Bewegungen wie Al-Qaida, Boko Haram und Islamischer Staat (IS) nicht durch militärische Stärke allein erreicht werden kann. Der IS beispielsweise benötigt keinen Landbesitz mit geographischen Staatsgrenzen, um seine kriminellen Operationen auszuführen. Kurz: der Islamische Staat benötigt gar keinen Staat im klassischen Sinne, er baut vielmehr auf dem religiösen Diskurs auf, der in Moscheen, Schulbüchern, an der Al-Azhar-Universität in Kairo1 und an anderen Orten verbreitet wird. Deshalb sind viele der Meinung, der einzige Weg aus dieser Tragödie wäre eine Reform des Islams. Die Frage lautet jedoch: Welche Art der Reform braucht der Islam von heute?

Die im folgenden propagierte Reform des Islams hat nichts mit der christlichen Reformation Luthers oder Calvins zu tun, denn der Islam hatte seine «lutherische» Reform bereits. Sie fand im 18. Jahrhundert an einem Ort, den wir heute Saudi-Arabien nennen, statt: Dort konnte die Welt die Geburt des Wahhabismus bezeugen, eine von Muhammad Ibn Abdul Wahhab angeführte religiöse Reformationsbewegung. Wie Luther zur Bibel befürwortete Wahhab eine Rückkehr zu den Gründungstexten des Islams, namentlich dem Koran und der Sunna seines Propheten. Neuerungen anstrebende Gruppen wie die Sufi-Bewegungen, die ein philosophisches und spirituelles Verständnis der Religion begrüssten, bekämpfte er. 1744 wurde der Wahhabismus die offizielle Religion im ersten saudischen Staat. Mit Hilfe des durch Öl generierten Geldes des Landes wurde er weltweit verbreitet. Schliesslich konnten damit Moscheen errichtet, extremistische Imame ausgebildet und religiöse Satellitenkanäle finanziert werden.

Der Wahhabismus war allerdings nicht die einzige Reformbewegung des Islams. Nach einer unter der Führung Napoleons durchgeführten militärischen Expedition in Ägypten 1798 erfuhren die Araber einen grossen kulturellen Schock, der das islamische Bewusstsein erschütterte. Die Fragen über den Fortschritt des Westens und die Rückschrittlichkeit des Islams wurden daraufhin vermehrt gestellt. Der Islam wurde damals von vielen Liberalen als kulturelles und wissenstheoretisches Hindernis für den Fortschritt gesehen, der Westen hingegen einerseits als Feindbild, andererseits als Inspiration. Die Reformisten dieser Ära konnten aber keine politischen Instanzen finden, bei denen ihre Ideen Gehör und Unterstützung fanden, wie das beim Wahhabismus in Saudi-Arabien der Fall war. Der Aufstieg der Muslimbruderschaft und der Erfolg der Revolution im Iran waren schliesslich die letzten Nägel in den Sarg dieser Reformbewegung.

Heutzutage gibt es immer noch viele liberale Reformbewegungen in der islamischen Welt. Die meisten von ihnen sehen die Krise des Islams als eine Krise des Verständnisses und der Interpretation islamischer Texte von Fundamentalisten und versuchen deshalb eine liberale Interpretation der heiligen Texte zu fördern. Ihr grosser Fehler ist jedoch, nicht zugeben zu können, dass der Islam ein sehr altes Problem hat, gewissermassen einen Geburtsfehler.

Natürlich sind liberale Interpretationen des Islams wichtig. Gegen ein fundamentalistisches Verständnis können sie aber nicht effektiv sein. Die Texte des Islams ähneln einem postmodernen Markt, einem «Anything goes». Der ägyptische Politikwissenschafter und Autor Hamed Abdel-Samad nennt dies den «Islam-Supermarkt», in dem friedfertige Interpretationen des Islams im gleichen Regal angeboten werden wie die gewalttätigen. Somit legitimiert eine Auslegung per se die puritanische fundamentalistische Sichtweise, welche als ideologisches Manifest aller gewalttätigen islamischen Bewegungen gesehen werden muss.

Dieser Islam-Supermarkt stellt uns eine problematische Frage: Wenn eine liberale Interpretation angesichts des islamistischen Extremismus ineffektiv ist, wie können wir diese Bredouille beheben? Ich glaube, es ist nötig, mutig zuzugeben, dass das Problem beim Islam selbst liegt – als Geburtsfehler – und nicht bei der Interpretation. Dazu gehören zum Beispiel die Verse, die zum Töten Ungläubiger und dem Dschihad aufrufen und die Verachtung der Frauen legitimieren. Korrigieren oder bearbeiten lassen sich diese Texte allerdings nicht, da sie sonst nicht mehr heilig wären. Umgehen oder ausser Kraft setzen könnten wir sie allerdings schon. Das soll heissen: wir müssen solche problematischen und gewalttätigen Verse heute als historische Ereignisse im Kontext ihrer jeweiligen Zeit verstehen – und nicht als Befehle an alle Muslime zu jeder Zeit und überall auf der Welt. Mit anderen Worten: der Koran sollte wie ein Roman oder eine historische Geschichte gelesen werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Moslems zunächst die Unfehlbarkeit des Korans ablehnen. Die Mehrheit sieht dies zwar als unmöglich an, doch in der Vergangenheit ist das in anderen Religionen schon passiert. Auch viele Juden glauben heute, dass die Thora nicht mehr direkt dem Wort Gottes entspreche.

Warten auf eine islamische Reform

Reformen werden nur erfolgreich sein, wenn sie mit einem gewissen Spielraum vorgenommen werden. Den Leuten muss es ermöglicht werden, ihre Ansichten auszudrücken, ohne sich vor religiöser oder politischer Zensur fürchten zu müssen. Ausserdem müssen Reformer ihre Ideen und Schriften öffentlich teilen dürfen, um sie zu diskutieren und sich über sie auszutauschen. Das ist aber heute eher eine theoretische denn eine praktische Möglichkeit, denn das Warten auf eine islamische Reform entspricht eher dem Warten auf Godot: Heutige islamische Gesellschaften weisen nicht nur einen eklatanten Mangel an Redefreiheit auf, es fehlt ihnen auch an einer politischen Instanz, die eine religiöse Reform durch die Änderung von Bildungsprogrammen und deren Anpassung an die Prinzipien der Menschenrechte unterstützen und gleichzeitig die Konfrontation mit extremistischen Predigern, die in Medien und Moscheen zu Hass und Intoleranz aufrufen, suchen würde.

Dass viele mutige Analysen des Islams und Aufrufe zu islamischen Reformen von Leuten aus dem Westen angestellt werden, überrascht nicht. Ohne Freiheiten können Reformer schliesslich nicht den Finger in die Wunde legen. Doch selbst in Europa können Reformer das Kind nur beim Namen nennen, wenn sie unter Polizeischutz stehen. Als Beispiel kann hier wieder Hamed Abdel-Samad genannt werden, den ich mehrere Male während seiner Besuche in Zürich getroffen habe. Seit Jahren wird er ständig von mindestens vier Polizisten begleitet, egal wohin er auch unterwegs ist. Oder die Feministin und Imamin Seyran Ateş, Gründerin der Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, deren Initiative von der Mehrheit der Moslems in Deutschland und der muslimischen Welt stark abgelehnt wurde. Das sagt uns also, dass ein liberaler, ein weltlicher Islam nur unter Polizeischutz bestehen kann.

Das Internet schafft einen sokratischen Denker

Einer der Gründe für das Scheitern islamischer Reformbewegung bis anhin war ausserdem, dass reformatorische Intellektuelle und Denker die Menschen nicht erreichen konnten. Das lag einerseits an der Zensur und andererseits an den eingeschränkten Kommunikationsmöglichkeiten in den betreffenden Gesellschaften: Aufrufe und Debatten hatten ausschliesslich durch Veröffentlichungen im Papierformat eine Chance. Dank des Internets konnten die Intellektuellen und Denker des 21. Jahrhunderts ihren Elfenbeinturm endlich verlassen und zu sokratischen Lehrern werden; sie können in Märkten herumlaufen, mit Menschen reden und Fragen stellen, ohne sich dabei vom Bildschirm ihrer Laptops wegbewegen zu müssen. Über das Internet kann mit Lesern und einem breiten, vielfältigen Publikum ohne Zensur kommuniziert werden. Dieses Privileg konnten islamische Bewegungen vorher nur über von Saudi-Arabien finanzierte TV-Kanäle und Moscheen geniessen.

Wenn wir uns darüber einig sind, dass die Erfindung des Buchdrucks, die Gutenberg-Revolution, dabei half, Reformationsideen in Europa zu verbreiten, so kann man heute behaupten, dass die Erfindung von Facebook, die Zuckerberg-Revolution, moderne Ideen in der islamischen Welt verbreitet – und dabei geht es längst nicht nur um die Reformation einer Religion.

Einerseits gibt es religiöse Reformer, die den religiösen Diskurs innerhalb der Religiösen modernisieren möchten. Andererseits gibt es die freien Denker und die Humanisten, deren Diskurs auf philosophischer Aufklärung beruht, der über die Religion hinausgeht. Das macht die muslimische Welt zu einer historischen Besonderheit, denn im Gegensatz zu Europa geht hier die Aufklärung der Reformation voraus. Bei ihrem Kampf auf dem Weg in die Moderne kämpft die muslimische Welt an zwei Fronten: sie kämpft den Kampf um Reformen und den Kampf um Aufklärung. Beide Ziele ergänzen sich letztendlich und zielen darauf ab, pluralistische liberale und säkulare Gesellschaften zu etablieren.

Allah in der Krise

In der westlichen Welt ist die Krise des Christentums ein grosses Thema: die Kirchen sind leer, und gerade in den nordischen Ländern besteht ein ausgeprägter Individualismus und Säkularismus, es gibt gar Prophezeiungen über das Aussterben der Religion. Wenn wir zum Vergleich die muslimische Welt betrachten, sehen wir das Aufkommen von Terrororganisationen, von Extremismus und von Theokratien wie Saudi-Arabien. Kurz gesagt: während sich das europäische Christentum im Rückzug befindet, scheint der internationale Islam auf dem Vormarsch zu sein.

Ein näherer Blick legt jedoch das Gegenteil offen: auch der Islam befindet sich in einer Krise. Es wenden sich viele junge Leute von dem Glauben ab, in den sie hineingeboren wurden. Sie verlassen den Islam aus den unterschiedlichsten Gründen: manche wenden sich ab aufgrund der erschreckenden Anzahl terroristischer Verbrechen gegen Kinder, Frauen und Alte. Die Ablehnung des Glaubens stellt in diesem Fall einen Protest dar, eine Methode, um Ärger und Ablehnung gegenüber der islamischen Gesetzgebung auszudrücken, die immer noch barbarische Bestrafungen wie Amputationen, Steinigungen, Auspeitschen oder Kreuzigungen institutionalisiert. Andere Gläubige wenden sich von ihrer Religion aufgrund ihrer philosophischen und existenziellen Überzeugungen ab, nachdem sie philosophische Debatten über die Existenz von Gott lesen konnten. Ein wichtiges Beispiel wäre die arabische Übersetzung von Richard Dawkinsʼ Bestseller «Der Gotteswahn», der zehn Millionen Mal als PDF heruntergeladen wurde. 30 Prozent der Downloads fanden allein in Saudi-Arabien statt.2 Ohne das Internet wäre das nicht möglich gewesen, denn Theokratien verbieten auch heute noch Bücher, zumeist mit nachhaltigem Erfolg.

Über genaue Statistiken, wie hoch die Anzahl an Atheisten in arabischen Ländern ist, verfügen wir noch nicht. Aber der Atheismus erfreut sich wachsender Beliebtheit, was sich am deutlichsten über die sozialen Medien und Blogs verfolgen lässt. Auf Facebook lässt sich für jedes arabische Land eine Gruppe für Atheisten finden, wobei die Gruppe «Syrian Atheists» allein bereits 47 000 Mitglieder hat3. Arabischen Regierungen blieb dieser rapide Anstieg des Atheismus nicht unbemerkt, weshalb Gegenmassnahmen eingeleitet wurden: Ägypten wandte beispielsweise eine Regierungsstrategie an, um «Atheismus zu bekämpfen». So starteten der ägyptische Minister für Religionsangelegenheiten und der Minister für Jugend und Sport 2014 eine nationale Kampagne, die die Ausbreitung des Atheismus unter jungen Leuten bekämpfen sollte. Im selben Jahr erklärte Saudi-Arabien Atheismus in seinem Anti-Terror-Gesetz als Terrorverbrechen.

All diese Entwicklungen zeigen die Dringlichkeit einer Reform des Islams: Verliert ein Unternehmen seine Kunden, muss es sich reformieren oder seine Geschäftsstrategie ändern, damit es nicht noch mehr Kunden verliert – und am Ende pleitegeht. Bei Religionen ist das sehr ähnlich. Verliert eine bestimmte Religion ihre Anhänger, ist eine Reform eine Notwendigkeit und kein intellektueller Luxus, wie das von vielen Konservativen behauptet wird. Der Islam von heute hat also zwei Optionen: Reform oder Untergang.

Dieser Artikel ist in der 1050 Ausgabe/October 2017 der Zeitschrift Schweizer Monat erschienen.

1 http://www.washingtoninstitute.org/policy-analysis/view/the-ideological-extremism-of-al-azhar
2 http://www.huffingtonpost.ca/kacem-el-ghazzali/he-god-delusion_b_9867606.html
3 https://www.facebook.com/syrianatheists.sy/

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