Wer meint, für den Kampf gegen negative Folgen der Globalisierung auch theokratische Regime in Schutz nehmen zu müssen, schadet damit den Bewohnern der muslimischen Welt. Von Kacem El Ghazzali
Über die letzten Jahre begannen die westlichen Länder, die muslimische Welt anders wahrzunehmen. Sie erkannten auf einmal gesellschaftliche Vielfalt, wo sie lange nur geschlossene und konservative Gemeinschaften gesehen hatten. Was gewiss nicht überraschend war, gibt die muslimische Welt mit ihren zahlreichen Krisenherden und Kriegsschauplätzen, bei denen der Islam nicht selten im Zentrum der Konflikte steht, doch tatsächlich überwiegend ein beklagenswertes Bild ab. Und dennoch: Spätestens mit dem mutigen Widerspruch des Bloggers Raif Badawi gegen das saudische Regime, für den er mit zehn Jahren Haft und tausend Peitschenhieben bestraft wurde, erschien es plötzlich so, als ob die arabische und muslimische Welt ein neues, vorher unbekanntes Gesicht erhalten hätte.
Die Globalisierung von Informationen und Ideen in den letzten zwanzig Jahren spielte bei diesem Wandel eine große Rolle. Sie war der Katalysator für viele Bewohner der muslimischen Welt, nach Emanzipation und Selbstaufklärung zu streben. Wir hatten das Glück, einer Generation anzugehören, die dabei zusehen konnte, wie die Mauern der Zensur im arabisch-islamischen Raum von den digitalen Medien langsam eingerissen wurden. Die Zeiten, in denen der Staat autoritär darüber befand, was die Leute lesen konnten, sind mittlerweile in vielen Teilen der Welt Vergangenheit – trotz der Versuche in vielen Ländern, die Zensur aufrechtzuerhalten. Ob sie damit Erfolg haben werden, ist zweifelhaft, aber noch ungewiss. Denn das Internet hat zwar neue Ideen verbreitet, bislang aber noch nicht zur Bildung von stabilen Institutionen und politischen Gruppen geführt, die den neuen Gedanken zur Durchsetzung verhelfen. Heute gebrauchen es auch Autokraten und Terroristen für ihre Zwecke.
Beherzte Auseinandersetzung mit Literatur und Wissenschaft
Mental bedeutete es aber zunächst einmal eine Befreiung. Kritische Bücher, die eine Bedrohung für Theokratien darstellten und deshalb zensiert oder verboten wurden, können nun problemlos beschafft und gelesen werden. Die Globalisierung der Ideen und Gedanken errichtete nicht nur eine Brücke zwischen der muslimischen und der übrigen Welt, sondern auch zwischen uns selbst und unserer Vergangenheit. Die Leute konnten auf einmal die Werke Kants, Freuds und Nietzsches lesen und sich mit den Denkern des Goldenen Zeitalters des Islams kritisch auseinandersetzen. Letztere wurden in alten Schulbüchern oft verzerrt dargestellt, um die Schüler in die Irre zu führen. Die religiöse Skepsis mancher großer Philosophen wurde verschwiegen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Ibn Rushd, bekannt unter dem Namen Averroes (1126 bis 1198), der die griechische Philosophie den Koranschriften vorzog und meinte, dass die religiösen Schriften „allegorisch neu interpretiert werden sollten, wenn sie mit Erkenntnissen von Philosophen wie Aristoteles in Konflikt stehen“. Bei Unstimmigkeiten in der Interpretation sollte bei Averroes der Rationalismus obsiegen.
Diese beherzte Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Gegenwart der philosophischen Literatur und der Wissenschaft inspirierte viele Menschen, ihre Stimme zu erheben. Kurzum: Der Ruf nach universellen Menschenrechten wäre nicht möglich gewesen, wenn das Internet als Werkzeug des kulturellen Austauschs und der Globalisierung nicht existiert hätte.
Reaktionäre Mächte waren von diesem technologischen Übergang und den neuen Möglichkeiten nicht sonderlich begeistert. Die Islamisten zum Beispiel setzten alles daran, jeden Versuch eines Aufrufs nach universellen Menschenrechten als einen fremden, imperialistischen Plan zu verunglimpfen, der den Islam bekämpfe und Muslime kulturell kolonialisieren wolle. Abdul-Azeez bin Baaz, der ehemalige Großmufti von Saudi-Arabien, schrieb beispielsweise ein Buch, in dem er den vermeintlichen imperialistischen Angriff auf die muslimische Welt verurteilte. Er sah „die Förderung des Spracherwerbs westlicher Sprachen und die Errichtung westlicher Universitäten in muslimischen Ländern als eines der Mittel, mit denen der Westen seine Ideale und Ansichten verbreiten möchte.“
Hamas und Hizbullah als „Freunde“
Jene mutigen Menschen, die in reaktionären Gebieten den Kampf von innen heraus führten, wurden an den Rand gedrängt, verhaftet, verfolgt und als Verräter an ihrer eigenen Kultur beschimpft. Solche Anschuldigungen gingen meist von Islamisten aus, bei denen die Ablehnung von Fortschritt und Moderne nicht weiter verwunderlich ist. In ihrem Ressentiment auf den Westen und die Moderne erhielten sie indessen oft Unterstützung von jenen Fraktionen der westlichen Linken, die kulturrelativistische Positionen vertreten und Muslime in toto als unterdrückte Opfer des westlichen Imperialismus in Schutz nehmen. Selbst in Islamisten meinten diese Kreise einen Bündnispartner im Kampf gegen den globalisierten Westen zu finden. Ein Beispiel für diese Position ist der Parteichef der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, der die Terrororganisationen Hamas und Hizbullah als „Freunde“ bezeichnete.
In seinem Essay „Mörderische Identitäten“ kritisierte der französisch-libanesische Autor Amin Malouf schon zur Jahrtausendwende die Art und Weise, in der etliche westliche Regierungen, gerade in Europa, Menschenrechtsverletzungen in bestimmten Ländern tolerierten und übersahen. Dafür wurde er von vielen als Eurozentriker kritisiert. Malouf selbst bat damals darum, „ihn als jemanden zu sehen, der derselben Menschheit angehört und kein Bürger zweiter Klasse ist“. Dieses Konzept eines „Weltbürgers zweiter Klasse“ beschreibt treffend, wie die kulturrelativistische Linke Menschen anderer Kulturen sieht. Sie stempelt jeden, der wie Malouf universelle Menschenrechte für alle einfordert, unabhängig von Kultur, Religion oder Herkunft, als Eurozentriker ab. Diese Fetischisierung von Religion und Kultur auf Kosten der Menschenrechte mündet darin, jedes Bestreben nach einer universellen Moral zu verdammen, die für jeden die gleichen Standards enthält, ganz gleich aus welchem Kulturkreis er auch immer stammen oder welcher Religion er auch immer angehören mag. Noch schlimmer: Mit solcherart Argumenten werden noch die schäbigsten antiwestlichen Diktaturen und theokratischen Regimes legitimiert und ihre Menschenrechtsverletzungen ignoriert oder gar relativiert.
Beschränkung aufs Muslim-Sein
Als die iranischen Frauen am 8. März 1979, weniger als drei Wochen nach der iranischen Revolution, gegen das Kopftuch und das islamische Gesetz aufmarschierten, lautete eine ihrer mächtigsten Parolen: „Es ist nicht westlich, es ist nicht östlich, es ist universell!“ Diese Parole wird heutzutage von vielen jungen Muslimen aufgegriffen. Universalität grenzt Westen und Osten nicht voneinander ab, vielmehr bringt sie Okzident und Orient, die muslimische Philosophie des elften Jahrhunderts und die Philosophie der europäischen Aufklärung einander näher. Sind wir also dazu bereit, unter Theokratien lebende Menschen als Teil der Menschheit zu berücksichtigen? Oder tragen wir weiter zu ihrem Elend bei, indem wir sie wie ihre muslimischen Führer auf ihr Muslim-Sein beschränken?
Die Antwort sollte uns nicht schwerfallen, insbesondere da gegenwärtig linke und rechte Demagogen aus dem teilweisen Versagen der etablierten Politik Kapital zu schlagen versuchen und einen Kampf zwischen Globalisten und Anti-Globalisten anzuzetteln versuchen. In dieser Situation stehen wir in der Pflicht, die universellen Werte gegen die Anti-Globalisten aller Couleur zu verteidigen.
Dieser Artikel ist am 5. September 2017 in der FAZ erschienen.