In ihrem Buch «Der alltägliche Islamismus» führt uns die jemenitisch-schweizerische Politikwissenschafterin Elham Manea in ihre Kindheit zurück und spricht mit Nostalgie über den populären, friedlichen Islam, der damals in vielen muslimischen Ländern existierte. Sie schreibt über die farbenfrohe Frauenkleidung in Sanaa, die unverschleierten Frauen in Rabat und darüber, wie diese Farben ersetzt wurden, bedeckt durch den schwarzen Schleier.
Sie spricht mit Bedauern über den Verlust der Toleranz, der durch Brutalität und Krieg noch verstärkt wurde, und sie fragt: Was ist passiert? Die Antwort, kurz zusammengefasst: Diese Transformationen sind eine Folge des Projekts des politischen Islam, der Islamisierung der Gesellschaft. Die Propagandisten des politischen Islam waren sich der Notwendigkeit der Islamisierung der Gesellschaft als Hauptbedingung für die Errichtung eines muslimischen Staates durchaus bewusst.
Selbst «Tausendundeine Nacht» ist verwerflich
Um einen muslimischen Staat zu errichten, muss es zunächst eine fromme islamische Gesellschaft geben. Daher konzentrierten sich diese islamistischen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten zunächst auf die Propagierung der Dawa (die Islamisierung der Gesellschaft): die Einführung des Schleiers für Frauen, die Ablehnung des nationalen Identitätsgefühls zugunsten der Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinschaft, der Umma, und die Ablehnung volkstümlicher Folklore und einheimischer Kulturen als «unislamisch».
All dies sowie die Übernahme des islamischen Gesetzes als Rechts- und Moralkodex hat zur Erosion toleranter sozialer Normen geführt. Dieser Prozess der Islamisierung kann insofern als erfolgreich angesehen werden, als das Tragen des Schleiers in vielen Ländern mit muslimischer Mehrheit zur Regel geworden ist, während es früher die Ausnahme war. Diese Entwicklung ist einhergegangen mit Zensur, Repression und Einschränkungen der Künste.
Selbst Bücher mit alten Volksmärchen wie «Tausendundeine Nacht» sind in Ländern wie Ägypten verboten worden, während sich extremistische Ideologien gerade unter Jugendlichen verbreitet haben. Diese Entwicklung hat eine neue Generation jihadistischer Kämpfer und Organisationen hervorgebracht, von der Kaida bis zum IS.
Islamisierung heisst nicht, dass diese Gesellschaften vor den genannten Umwälzungen nichtmuslimisch waren. Ganz im Gegenteil, alle diese Gesellschaften hatten Moscheen und religiöse Anführer, und sie praktizierten religiöse Rituale und betrachteten islamische Feiertage als Anlass für Volksfeste. Obwohl Frauen und Minderheiten nicht vollständig gleichgestellt waren, gab es Spielräume, die eine Art Koexistenz und Toleranz zwischen den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen der Gesellschaft ermöglichten.
Diese Gesellschaften waren in der Lage, solche Freiräume zu garantieren, weil sie den Islam nicht als einzige Determinante für akzeptables Verhalten im sozialen und politischen Leben erkannten. Vielmehr war der Islam nur ein Faktor unter vielen anderen. So gab es Stammesbräuche und Traditionen, die den Gesellschaftsvertrag zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft bestimmten.
Radikale müssen nicht immer bärtige Männer sein
Folglich ist es zutreffender, das Projekt der politischen islamischen Bewegungen als Versuch zu beschreiben, den Islam zur alleinigen Determinante aller Bindungen des Gesellschaftsvertrages zu machen. Sprich, das gesamte soziale und politische Leben sollte der Autorität der Religion unterworfen werden, um alle sozialen Normen, Bräuche und Traditionen zu beseitigen, die etwa eine Vermischung der Geschlechter und relative religiöse Toleranz erlaubten. Mit anderen Worten: Diese Bewegungen strebten die Beseitigung aller Faktoren an, die die absolute Macht der Religion beschneiden können.
Dieser politische Islam war nicht nur eine Reaktion auf die Ideologien der westlichen Moderne (Sozialismus, Liberalismus), sondern auch auf die authentischen alternativen Traditionen der verschiedenen muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die eine Art Autonomie zu bewahren versuchten. Elham Manea weist in ihrem Buch darauf hin, dass dieser «islamische Aktivismus» in Wirklichkeit die Ursache des Problems ist – und nicht die Lösung, wie man im Westen gerne glaubt.
Denn hier werden Vertreter des politischen Islam oft als «gemässigt» wahrgenommen, als dialogbereite Partner, die dem Jihadismus und dem Radikalismus entgegenwirken. Um diesen Irrtum zu verstehen, ist ein Blick zurück in die Geschichte nötig. Während des Kalten Krieges ging das westliche Lager eine Allianz mit den Jihadisten ein, namentlich nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan 1979/80.
Die bärtigen Männer, die den Kommunismus bekämpften, wurden nicht etwa als Radikale oder islamische Extremisten betrachtet, denn die Unterscheidung zwischen einem moderaten und einem radikalen Islamisten war zu dieser Zeit nicht notwendig. Erst nach den Anschlägen vom 11. September erkannte man im Westen die Notwendigkeit, Islamisten in «Moderate» und «Radikale» zu unterteilen.
Allerdings bezog sich diese «Moderation» im Lexikon des Westens nicht auf den Umstand, wieweit solche Bewegungen die Menschenrechte und die Werte der Gleichberechtigung akzeptierten. Vielmehr bezog sich der Begriff auf das Verhältnis zur Gewalt. Viele Islamisten, die sich in ihrer Haltung gegenüber dem Individualismus nicht von der Kaida oder dem IS unterschieden, galten daher als gemässigt. Es genügte, dass sie ihre Ablehnung der Gewalt erklärten.
Als die Welt wegen der schockierenden Enthauptungsvideos, welche die Barbaren des IS veröffentlichten, endlich aufwachte, fragten sich viele muslimische Denker: Wozu die Verwunderung? Was der IS tut, findet seine theoretische und religiöse Rechtfertigung im Wesentlichen in denselben religiösen Büchern, die in unseren Bibliotheken ausgeliehen werden, auf den Lehrplänen in den Schulen unserer Kinder stehen oder in unseren Moscheen gepredigt werden.
Angesichts der neuen Gefahr terroristischer Anschläge im Westen war dies eine günstige Zeit für den Diskurs über den moderaten Islam. Viele Politiker verfolgten Strategien der Zusammenarbeit mit den sogenannten Moderaten, die sie als die authentische islamische Stimme präsentierten, dazu berufen, dem islamischen Radikalismus, der als abartig dargestellt wurde, entgegenzuwirken.
Doch die mangelnde Präzision des Westens bei der Definition dessen, was tatsächlich mit «gemässigt» gemeint ist, ermöglichte es vielen islamistischen Gruppen, die Politik zu infiltrieren und sich als Verbündete im Kampf gegen den Terror zu präsentieren und so von immenser finanzieller und strategischer Unterstützung zu profitieren. Ihre wahren Absichten konnten sie erfolgreich verbergen.
Manea entlarvt diese verworrene Beziehung zwischen politischen islamischen Bewegungen und dem Westen. Und sie erklärt dabei, wie sich die Entscheidungsträger in Europa und Nordamerika in einer Konfrontation zwischen zwei grossen islamischen Strömungen wiederfinden: dem Neofundamentalismus (oder gesellschaftlichen Islamismus) und dem Soft-Core-Islamismus.
Die smarten Soft-Core-Islamisten
Der erste Begriff beschreibt die redlichen Islamisten. Sie finden nichts Falsches daran, ihr Ziel der Weltherrschaft zu formulieren. Ihr Leitspruch lautet: Der Islam wird die Welt beherrschen, und der Multikulturalismus wird uns auf dem Weg zu diesem Ziel helfen. Ihre wichtigsten Einsatzorte sind Moscheen, Koranschulen und zivilgesellschaftliche Vereine.
Den Typus des Soft-Core-Islamisten beschreibt Manea als «gut erzogen, lächelnd, rasiert, wortgewandt, verliebt in den Multikulturalismus und engagiert in den Behörden». Laut Manea bestehen beide darauf, dass es nur einen Islam gibt, ihren Islam. Vielfalt in islamischen Konfessionen und Traditionen ist nicht nur verpönt, sie wird verabscheut. Daher zielt der politische Islam, unabhängig von der Formel oder dem Bild, mit dem sich die Islamisten präsentieren, letztlich nicht darauf ab, eine politische Bewegung zu sein, die Demokratie und Pluralismus umfasst.
Darüber hinaus hat der politische Islam, obwohl er das Wort «politisch» in seinem Namen trägt, nicht zum Ziel, Politik zu betreiben oder gar das Politische zu islamisieren. Vielmehr beabsichtigt er, die Politik zu umgehen und sie vollständig durch Religion zu ersetzen.
Deswegen sollten wir uns davor hüten, unsere moderne (westliche) Vorstellung von Politik auf eine Ideologie zu projizieren, die darauf abzielt, die Politik zu überwinden, wie der Psychoanalytiker Fethi Benslama in seinem Essay «Der Übermuslim» erläuterte: Was islamische Strömungen, von Mainstream-Bewegungen wie der Muslimbruderschaft bis hin zu offen gewalttätigen Gruppen wie der Kaida und dem IS, meinen, wenn sie von Politik sprechen, ist «Hakimiyyah». Dieses Konzept geht auf die Ideen des Klerikers Ibn Taymiyyah (1263–1328) zurück. Und es beinhaltet, dass die Führung das Privileg von Allah ist und nicht des Volkes. Allah allein ist berechtigt zu herrschen.
Spätestens seit John Lockes Abhandlung über Toleranz wissen wir, dass der Staat nicht bestimmen soll, was Religion ist. Er soll die religiöse Neutralität gewährleisten und den Gläubigen rechtliche Grenzen setzen. Insofern ist es geradezu absurd, wenn Experten angesichts der Herausforderung durch Extremisten ernsthaft «mehr Religion» einfordern statt eine konsequente Umsetzung des Laizitätsprinzips. In diesem Sinne äusserte sich kürzlich der französische Soziologe Olivier Roy in einem Interview mit der NZZ. Es ist unbegreiflich, dass wir zwanzig Jahre nach dem 11. September immer noch darüber sinnieren, ob die religiös verursachte Misere mit noch mehr Religion zu bewältigen sein soll.
Der Westen soll sich von der Illusion, eine «Kirche» des Islam konstruieren zu können, endlich verabschieden. Dabei können die Stimmen aus der muslimischen Welt, die für mehr Freiheit und weniger Religion plädieren, wie Elham Manea in ihrem Buch brillanterweise zeigt, äusserst hilfreich sein.
Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen