Liberale Stimmen halten ein Burka-Verbot nicht für vereinbar mit den individuellen Grundrechten der freien Religionsausübung, der Selbstbestimmung der Frauen und einer freien Kleiderordnung. Dabei sitzen sie allerdings den Märchen aus tausendundeiner Nacht über den Niqab auf. Tatsache ist: Ein Verbot der Vollverschleierung reicht bei Weitem nicht.
Eines der einprägsamsten Bilder des Jahres 2016 war das der Frauen von Manbij. Nachdem sie zwei Jahre unter der Tyrannei des Islamischen Staates leben mussten, konnten es die letzten verbliebenen Bewohner der nordsyrischen Stadt Manbij kaum glauben, als endlich die von den USA unterstützten Kräfte eintrafen, um sie zu retten: Frauen, Männer und Kinder drängten auf die Strassen und feierten die Befreiung ihrer Region vom Islamischen Staat. Dabei verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken rasch Videos, die zeigten, wie muslimische Frauen ihre Burkas und Niqabs verbrannten und Männer demonstrativ ihre Bärte abrasierten.
Die mutigen Frauen von Manbij haben mit dem Verbrennen ihrer Niqabs nicht nur ein Symbol zerstört, unter welchem sie die letzten zwei Jahre zu leben gezwungen waren, sondern sie haben damit zugleich auch die meisten Argumente verbrannt, die behaupten, dass Muslimas die Niqabs freiwillig tragen würden. Argumente notabene, die nicht selten bei vielen westlichen Liberalen und Feministinnen zu finden sind.
Dabei ist eines klar: Der Niqab ist nicht nur ein Symbol der Unterdrückung und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, sondern auch ein von Islamisten weltweit gezielt eingesetztes Instrument, um ihre fundamentalistische, ideologische und politische Agenda durchzusetzen. Verschleierte Frauen sind in diesem patriarchalischen Weltbild somit immer auch Ausdruck des islamistischen Einflusses auf die staatliche Macht und ihrer Kontrolle der politischen, sozialen und individuellen Freiheit.
Vom Iran bis zu den Islamisten in Algerien gilt das unverhüllte weibliche Haar als Sünde
So führte etwa im Jahr 1983, vier Jahre nach der iranischen Revolution und der Gründung der Islamischen Republik, Ayatollah Ruhollah Khomeini ein Verbotfür Frauen ein, ihre Haare und die Form ihres Körpers zu zeigen. Seither schlägt, verhaftet und sperrt das iranische Regime Frauen ein, wenn sie nicht ordnungsgemäss gekleidet sind. Übrigens sind auch westliche Frauen gezwungen, ihre Haare zu bedecken, wenn sie den Iran besuchen. Prominentestes Beispiel hierzulande ist die ehemalige sozialdemokratische Aussenministerin Micheline Calmy-Rey, die 2008 den Machthabern in Teheran verschleiert ihre Aufwartung machte.
In Algerien wiederum verkündete eine der führenden islamistischen Gruppen, dass alle unverschleierten Frauen ein legitimes militärisches Ziel seien; im Jahr 1994 schritten sie sodann zur Tat und schossen ein 17-jähriges, unverhülltes Mädchen nieder. In mehreren muslimischen Ländern wurden ausserdem Frauen durch Säure angegriffen, weil sie sich weigerten, ihr Gesicht zu bedecken. Auch viele Ehrenmorde wurden aus demselben Grund begangen.
Und was ist mit jenen Frauen, die gewissermassen in die Verschleierung hineingeboren werden? Rana Ahmad, die in Saudi-Arabien aufgewachsen ist und nun als Flüchtling in Deutschland lebt, erzählte der ‚Deutschen Welle‘, dass sie gezwungen war, im Alter von 9 Jahren den Hijab zu tragen, und im Alter von 13 den Niqab: «Der Hijab hat mich meiner Kindheit beraubt» sagt Rana Ahmad.
Und tatsächlich: Niqabträgerinnen sindmanchmal kaum mehr als zehn Jahre alt. Welches Verbrechen haben sich diese kleinen Mädchen schuldig gemacht, dass sie eine solch erzwungene Isolation erdulden müssen? Der Niqab ist ein mobiles Gefängnis und man stelle sich ein zehn Jahre altes Mädchen darin vor. Es ist vielleicht das gleiche Mädchen, das nach all der Gehirnwäsche und der Schmerzen, die es über sich ergehen lassen musste, als Erwachsene sagt: “Ich entscheide mich freiwillig dafür, den Niqab zu tragen.“ Als ob sie wirklich eine andere Wahl hätte: Bei der Ideologie der islamischen Fundamentalisten gibt es nur eine einzige Wahl für die Frau, nämlich den Niqab zu tragen.
Nichts ist an einer Burka oder an einem Niqab liberal oder progressiv
Und dennoch bin ich mir sicher, dass es Leute gibt, die versuchen, die Burka und den Niqab unter dem Banner der Religionsfreiheit zu verteidigen. Doch die Religionsfreiheit darf nicht den Menschenrechten widersprechen. Andernfalls könnten wir konsequenterweise im Namen der Religionsfreiheit auch gleich die Handlungen derer legitimieren, die es als ihre religiöse Pflicht ansehen, Apostaten zu töten.
Nichts ist an einer Burka oder einem Niqab liberal, und es ist auch nichts progressiv an jenen, die sie verteidigen oder den Niqab als «religiöses und kulturelles Recht» verklären. Der Niqab ist nicht nur eine kulturelle und religiöse Tradition, sondern auch ein Symbol der geschlechtsspezifischen Diskriminierung. Wer wunderte sich nicht während der Sommerferien in der Zürcher oder Luzerner Bahnhofstrasse über jene Frauen in Niqabs, die von ihren Männern in Marken-Jeans und T-Shirts begleitet wurden? Die Vernunft sagt, dass dies klar ein Werkzeug der absoluten Diskriminierung ist, basierend auf dem Geschlecht: einerseits ein Recht für den Mann, andererseits ein anderes Recht für die Frau. Solche Gepflogenheiten dürfen in Ländern, in denen die Gleichstellung von Mann und Frau eine der wichtigsten Säulen einer liberalen Gesellschaft ist, nicht geduldet werden.
Zusammengefasst: Die Unterdrückung der Frauen muss bekämpft werden. Hilft uns dabei ein Niqab- oder ein Burkaverbot? Ich denke, bei allen berechtigten Sicherheits- und Frauenrechtsargumenten, die für ein Verbot sprechen, ist es nicht genug, nur ein Verbotzu fordern. Burkas und Niqabs sind lediglich ein Symptom einer viel grösseren Krankheit, nämlich derjenigen des Islamismus.
Ein Verbot ohne sachliche Auseinandersetzung mit dem Islamismus wäre zwecklos. Es benötigt gleichzeitig zum Burka- und Niqabverbot eine Diskussion, die das Kind beim Namen nennt. Eine Diskussion, die nicht alle noch so reaktionären Seiten der islamischen Religion wie Sharia und Unterdrückung der Frauen unter dem Banner der «Religionsfreiheit» verteidigt. Sonst wäre «das Wasser auf den Sand gegossen», wie eine arabische Redewendung sagt.
Dieser Artikel ist am 18. September 2017 in der Luzerner Zeitung erschienen.