Der islamische Prophet Mohammed darf nicht pädophil genannt werden. Eine österreichische Seminarleiterin, die sich so geäussert hatte, wurde vom Gericht wegen Herabwürdigung religiöser Lehren mit einer Geldstrafe belegt, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat das Urteil Ende Oktober bestätigt. Wird damit die Meinungsfreiheit unzulässig eingeschränkt, um sogenannte religiöse Gefühle zu schonen?
Für manche Menschen mag es wünschenswert sein, Religionen vor «Beleidigungen» zu schützen. Das Problem liegt allerdings in der Definition des Wortes «Beleidigung»: Wo immer Meinungsverschiedenheiten vorkommen, wird es auch Menschen geben, die sich von bestimmten Handlungen oder Worten beleidigt fühlen. Bei Religionen tritt diese Problematik offen zutage: Zum Beispiel besagt der islamische Glaube, dass Christus kein Sohn Gottes, sondern nur ein Mensch sei. Juden und Christen wiederum erkennen Mohammed nicht als Propheten an.
Freiheit – nach allen Richtungen
Vor diesem Hintergrund müsste eine Gesellschaft, die ein friedliches Zusammenleben der Angehörigen aller Religionen anstrebt, alle Gesetze abschaffen, welche die Missachtung oder Beleidigung religiöser Gefühle unter Strafe stellen. Auch grundsätzlich gehört ein Blasphemie-Artikel nicht in (westliche) Strafgesetzbücher: Wenn Religionen das Recht haben, ihre Überzeugungen zu predigen, ist es auch notwendig, dass Individuen Religionen und religiöse Gefühle kritisieren, ja sogar verspotten und über das Allerheiligste lachen können. Andernfalls wird die Freiheit nur in eine Richtung möglich sein.
Faktisch kann auch im Westen der Vorwurf der Blasphemie mittlerweile wieder gravierende, ja gar tödliche Konsequenzen haben, wie unter anderem der islamistische Terroranschlag auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» 2015 gezeigt hat. Ein weiteres erschreckendes Beispiel dafür, wie die Meinungsäusserungsfreiheit in Europa unter Druck gerät, ist der Umstand, dass sich Islamkritiker wie Hamed Abdel Samad nur unter Polizeischutz im öffentlichen Raum bewegen können.
Die Cartoons von «Charlie Hebdo» wie auch Hamed Abdel Samads Bücher hindern niemanden daran, ein gläubiger Muslim zu sein. Dennoch wird es immer religiöse Menschen geben, die Meinungsfreiheit und Kritik als Beleidigung ihres Glaubens werten. Keine allzu grosse Überraschung daher, dass im Westen, der seine Werte immer weniger konsequent hochhält und verteidigt, die Freiheit von Schriftstellern und Künstlern unter dem Vorwand, religiöse Gefühle und Gebote zu schützen, zunehmend eingeschränkt wird, teils in vorauseilendem Gehorsam, teils gar durch Gerichtsurteile.
Im Gleichschritt mit den Islamisten
In vielen muslimischen Ländern werden Ablehnung oder Protest gegen bestimmte Praktiken, die mit dem Verweis auf den Islam gerechtfertigt werden – etwa Rassendiskriminierung, Steinigung, Kinderehe, Verfolgung von Homosexuellen und Apostaten –, als eine Form der Verachtung und Beleidigung der Religion angesehen und mit harten Strafen geahndet.
Beispiele dafür gibt es leider mehr als genug, wie der Fall der pakistanischen Christin Asia Bibi oder auch derjenige des saudischen Schriftstellers Raif Badawi zeigen, der 2013 wegen Beleidigung des Islam zu tausend Stockschlägen und zehn Jahren Haft verurteilt wurde.
Weniger bekannt ist das Schicksal des mauretanischen antirassistischen Bloggers Mohamed Mkhaitir, der in einem Artikel das Kastensystem, das oft in Zusammenhang mit der islamischen Tradition gebracht wird, thematisierte und sich dabei kritisch über die Verhaltensweise des Propheten Mohammed gegenüber Sklaven äusserte. Kurz nach der Veröffentlichung des Artikels wurde Mkhaitir im Jahr 2014 wegen Beleidigung des Propheten verhaftet. Während des Prozesses versammelten sich Tausende von Demonstranten vor dem Gericht in der mauretanischen Hauptstadt Nouakchott und forderten die Hinrichtung des 28-jährigen Mannes. Ende 2014 wurde er zum Tod durch Erschiessen verurteilt. Als ein Berufungsgericht im November 2017 die Strafe auf zwei Jahre Gefängnis reduzierte, folgten – wie in Pakistan – gewalttätige Demonstrationen, auf denen die Exekution Mkhaitirs gefordert wurde.
Mkhaitir ist immer noch inhaftiert; Amnesty International gab letzte Woche eine Mitteilung heraus, dass er an einem unbekannten Ort festgehalten werde. Inzwischen spricht sein Anwalt Mohamed Ould Moine allerdings von einer Entführung durch die Präsidentengarde.
Bezeichnend ist dabei, dass die gleichen Websites, die im Jahr 2014 Artikel veröffentlichten, in denen Mkhaitirs Hinrichtung gefordert wurde, kürzlich mit dicken Schlagzeilen die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte feierten. Tausende von Arabern reagierten auf sozialen Netzwerken und arabischen Nachrichtenportalen mit Kommentaren, laut denen es sich beim Urteil des EGMR um «einen historischen Sieg des Islam im Land der Ungläubigen» oder «eine starke Antwort gegen die arabischen Liberalen, die unsere Religion beleidigen», handle. Von den zahlreichen islamischen Organisationen, die sich oft negativ zu jeglichen internationalen Menschenrechtsabkommen äussern, die die Religions- oder die Meinungsfreiheit fördern, haben nun etliche das Urteil des EGMR ausdrücklich begrüsst.
So lobte etwa die von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit gegründete Islamische Bildungs-, Wissenschafts- und Kulturorganisation (Isesco) das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte; ihr gehören 52 Mitgliedstaaten an, darunter Saudiarabien, Mauretanien und Pakistan. Sie forderte ausserdem Muslime in den westlichen Gesellschaften dazu auf, diesen Entscheid zur Verteidigung ihrer bürgerlichen, politischen und kulturellen Rechte bestmöglich zu nutzen. Auch die vom Ägyptischen Fatwa-Amt gegründete Beobachtungsstelle namens «Islamophobia Watch» begrüsste das Urteil und betonte, dass Regierungen weltweit und internationale Menschenrechtsinstitutionen entsprechend handeln müssten, um Verleumdungsversuchen gegen den Islam entgegenzutreten.
Fatale Signalwirkung
Irritierend ist, dass sich das Urteil des EGMR und die drakonischen Urteile gegen Schriftsteller, Aktivisten und religiöse Minderheiten in der islamischen Welt hinsichtlich der Argumentation kaum unterscheiden. Selbstredend hat das Gericht in Strassburg niemanden wegen Blasphemie zum Tode verurteilt, aber indirekt konzediert es, dass die sogenannte Beleidigung des Propheten bestraft werden solle. Wenn nun europäische Länder im Interesse des Respekts vor religiösen Gefühlen Urteile gegen die Meinungsfreiheit erlassen, wird das nicht nur das Leben von Freidenkern und religiösen Minderheiten in der islamischen Welt erschweren, sondern auch ihre Verfolgung legitimieren.
Die zunehmende Reislamisierung vielerorts in der islamischen Welt und die Ablehnung westlicher Werte durch eine stattliche Anzahl Jugendlicher mit muslimischem Hintergrund im Westen, auch in der Schweiz, ist eine Realität. Aber darüber geht oft vergessen, dass Europa für viele junge Menschen in der islamischen Welt schon immer Teil ihres kulturellen Selbstverständnisses war, eine Inspirationsquelle und eine Hoffnung auf Modernisierung. Doch diese liberalen Jugendlichen betrachten Europa heute mit grosser Sorge. Was bleibt von Europa, wenn die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird, um eine angeblich verfolgte religiöse Minderheit zu schützen? Vielleicht würde Voltaire heute zögern, sein Stück «Le fanatisme ou Mahomet le Prophète» zu schreiben – nicht nur aus Angst vor Racheakten bewaffneter muslimischer Fanatiker, sondern auch, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ihn vermutlich gleich auf die Anklagebank zitieren und wegen Blasphemie verurteilen würde.
Dieser Artikel ist am 15. November 2018 in der NZZ erschienen.