In Franz Kafkas Geschichte «Die Verwandlung» wacht der Protagonist Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen auf und findet sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.
Angenehmer war da wohl die Erfahrung Lord Byrons, der nach seinem ersten literarischen Erfolg aufwachte «und berühmt war». Nicht minder aufregend ist die Metamorphose, die ich und einige meiner Freunde quasi über Nacht durchmachen mussten.
Wir, eine feministische Journalistin, ein Universitätsprofessor, ein jüdischer Filmemacher und ein muslimischer Arzt, standen unlängst an einer Zürcher Dachterrassen-Party beieinander. Und begannen locker zu plaudern.
Obwohl wir uns politisch unterschiedlich positionieren und auch sonst ganz divers sind, hatten wir bald ein Thema gefunden, das uns alle verband. Wir hatten in jüngerer Zeit alle dieselbe Erfahrung gemacht: Wir fanden uns plötzlich als «rechts», «rechtsradikal» oder gar «rechtsextrem» etikettiert. Die Grenzen zwischen den Bezeichnungen verschwimmen ja zumeist in den Augen der Kritiker – «rechts» ist eine abschüssige Bahn, und wer als «Rechter» beginnt, landet zwangsläufig irgendwann am «rechten Rand».
Was war geschehen? Die Erklärung ist einfach: Wir machen aus unserer Ablehnung des politischen Islams und der Identitätspolitik kein Hehl.
Es kann jeden treffen
Einen «Rechtsruck» haben wir nie vollzogen. Wir verstanden und verstehen uns als kritische Intellektuelle, deren Denken sich am Erbe der Aufklärung orientiert. Es handelt sich vielmehr um eine Fremdzuschreibung, sprich: um die Anschuldigung von sich progressiv dünkenden Bekannten, die ihre eigenen Positionen zum Nullmeridian der politischen Landkarte machen und Ansichten, die diesen widersprechen, nicht mehr dulden. Falls es doch jemand wagt, sie zu äussern, wird nicht mehr diskutiert, sondern nur noch diffamiert.
Wer den politischen Islam bekämpft und Identitätspolitik für einen Irrweg hält, gilt also in sogenannten «progressiven» Kreisen per se als rassistisch. Auch bekennende Linke bleiben von solchen Anwürfen nicht verschont.
SP-Regierungsrat Mario Fehr wurde von linken Aktivisten, die gegen seine Politik auf den Strassen Zürichs protestiert haben, als «Rechter» bezeichnet. Sein Vergehen: Er befürwortet das Verbot der Vollverschleierung und will in Übereinstimmung mit dem Rechtsstaat diejenigen ausweisen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht wurde von ihren Parteigenossen als Rassistin und AfD-nah beschimpft, als sie sagte, «offene Grenzen für alle sind weltfremd» und «reaktionärer politischer Islam gehört nicht zu Europa».
In der islamischen Welt, aus der ich stamme, käme so etwas niemandem in den Sinn. Linke Politiker und Intellektuelle, die den Islamismus bekämpfen, werden dort nicht des Radikalismus und Rassismus bezichtigt. Ganz im Gegenteil. Wenn dort die Islamisten eine freiheitsliebende Stimme zum Schweigen bringen wollen, behaupten sie, dass diese gar nicht die Freiheit, sondern den moralischen Verfall anstrebe. Sie beschuldigen sie der Apostasie, also des Abfalls vom Islam, und bringen sie nach Möglichkeit an den Galgen oder ins Gefängnis.
Eine verkehrte Welt
Islamisten gibt es auch im Westen, im Gegensatz zu Galgen oder Scharia-Gefängnissen. Und diese Islamisten freuen sich über die sich progressiv Dünkenden, die überall Unterdrückung wittern, und machen sich deren Narrativ des Kampfes gegen den angeblich weissen Rassismus zu eigen. Wenn Links- oder Rechtsliberale – egal, ob Muslime oder Nichtmuslime – im Westen in bester aufklärerischer Tradition Kritik am religiösen Fundamentalismus üben, beschuldigen angeblich Progressive und Islamisten sie unisono: Euch geht es nicht um das fundamentale Recht auf Kritik; nein, ihr missbraucht das, was ihr Freiheit nennt, um ungehindert rassistisch sein zu dürfen.
Wie ist es möglich, dass die Ablehnung von Symbolen der Unterdrückung und des religiösen Fundamentalismus sowie die Aufforderung, die Gesetze des Staates zu respektieren, als extremistisch gegeisselt werden? Der Grund findet sich in der Priorisierung der Probleme der Gegenwart: Sowohl die neuen «Progressiven» als auch die Islamisten sind der Ansicht, dass der politische Islam und seine Kontrollinstrumente wie Nikab und Burka gar nicht die eigentliche Bedrohung für Frauen und Minderheiten seien.
Die Quelle allen Übels ist aus ihrer Sicht eine ganz andere: der «weisse Mann» und sein aggressiver Imperialismus bzw. Kolonialismus. Er soll es sein, der die Muslime – wie andere Minderheiten auch – zu unterdrücken trachtet.
Ich sage es offen und ehrlich: Klar gibt es Anhänger eines weissen Suprematismus – und diese Leute gehören auch aufs Heftigste kritisiert. Das ist das eine. Etwas anderes ist es, alle weissen Männer als potenzielle Rassisten abzustempeln. Wer so spricht und argumentiert, differenziert nicht nur nicht, er betreibt seinerseits Rassismus unter veränderten Vorzeichen. Seine Welt steht buchstäblich kopf.
So wird in dieser verkehrten Optik das Tragen der Burka im Westen als Ausdruck von persönlicher Freiheit verklärt, wohingegen ein Burkaverbot als Zeugnis des gelebten Rassismus gilt. Frauen, die den Nikab tragen, können nach Auffassung der selbsternannten «Progressiven» gar nicht gezwungen bzw. unterdrückt werden, denn sie leben ja nur nach ihrer Kultur.
Diese Kultur ist nach ihrem Verständnis nicht etwas, das individuelle Ausformungen kennt, das sich historisch entwickelt und verändert, sondern ein grundlegender, ein für alle Mal festgelegter, konstanter Wert, den es zu bewahren gilt. Diese Sicht der Dinge blendet alle politischen und intellektuellen reformerischen Bewegungen aus, die die islamische Welt seit Jahrzehnten kennt.
Reaktion und Progress
In vielen muslimischen Ländern findet eine Auseinandersetzung über Kultur, Identität und Islam statt. Fortschrittliche Kräfte streben einen Universalismus der Menschenrechte an, den sie als Errungenschaft für alle Menschen betrachten; die Konservativen halten demgegenüber an einer Ständegesellschaft mit Privilegien für Männer und Gläubige fest. Während diese Auseinandersetzung in der islamischen Welt andauert, scheint es, als hätten es die selbsternannten Vordenker des sogenannten Fortschritts im Westen geschafft, diesen Konflikt zugunsten der reaktionären Muslime zu gewinnen.
Ihnen ist es nämlich gelungen, die aus dem Orient stammenden Mitbürger auf die Verschleierung und einen konservativen Moraldiskurs zu reduzieren. So wird mittlerweile der Hijab als das repräsentative Symbol des muslimischen Kollektivs angesehen. Liberale Muslime wie Elham Manea, Seyran Ateş oder Bassam Tibi sind hingegen ein rotes Tuch für westliche «Progressive», weil sie nicht in ihr Bild des hyperreligiösen «homo islamicus» passen.
Der syrische Publizist Sami Alkayial erklärt diese Fetischisierung des islamischen Schleiers treffend: «Der verschleierte weibliche Körper ist das auffälligste und wirkmächtigste Symbol des von Linken angestrebten Pluralismus.» Das heisst: Der Schleier ist für sie das leicht erkennbare Zeichen dafür, dass «der Muslim» anders ist und anders bleiben muss – und nur so darf er auf die Anerkennung durch die Multikulturalisten hoffen.
Ein falsches Zeichen
Wer seine Solidarität mit den Muslimen bekundet, verfällt darum schnell darauf, sich an deren reaktionärste Symbole zu halten. So trug die neuseeländische Premierministerin Jacinda Ardern nach dem rechtsextremen Terroranschlag gegen Muslime in Christchurch tatsächlich einen schwarzen Hijab.
Mit der Wahl dieses Kleidungsstücks nahm sie – wohl ohne sich dessen bewusst zu sein – die Perspektive des Mörders an, der Muslime lediglich als verschleierte Frauen und bärtige Männer wahrnahm. Das ist etwas, was echte rassistische Suprematisten in ihrem Hass und Linke in ihrer Solidarität wider Willen verbindet: Sie nehmen nur die religiöse Identität des Kollektivs wahr.
«Sie hätte besser ihre Solidarität mit den Opfern als Bürger zum Ausdruck bringen sollen und nicht als religiöse Identitäten, die auf zwei Beinen unterwegs sind», schrieb Sami Alkayial. Die Premierministerin Neuseelands legte nach dem Ende der Solidaritäts-Show ihren Hijab ab, und irgendwann wird sie für eine Gay-Parade die Regenbogenflagge der LGBT-Aktivisten hissen – was die verschleierten muslimischen Frauen nicht tun werden. Manche von ihnen, obwohl sie es vielleicht gern tun würden.
Der vor zwei Jahren verstorbene marxistische arabische Philosoph Sadik Jalal al-Azm beschrieb dieses Phänomen als umgekehrten Orientalismus. Wenn einige Orientalisten einen grundlegenden nichthistorischen Charakter für den Orient postulieren, macht der umgekehrte Orientalismus das Gleiche, nur eben mit einer positiven statt einer negativen Wertung. Die Kritik am Orientalismus nach Sadik Jalal al-Azm darf uns nicht daran hindern, bestimmte Ausprägungen des Islams zu kritisieren. Wer dies gegenwärtig im Westen öffentlich tut, muss es aushalten, dass er als Rassist dämonisiert wird.
Und Michel Foucault . . .
Die Haltung vieler angeblich Progressiven ist freilich nicht wirklich neu. Bereits 1978 hatte der französische Philosoph Michel Foucault in einem Artikel in der Zeitschrift «Le Nouvel Observateur» die Linken dazu aufgerufen, ihre Ängste vor einer islamischen Regierung in Iran aufzugeben. Daraufhin kritisierte eine im Exil lebende Iranerin in einem Leserbrief Foucaults unkritische Haltung gegenüber den Islamisten: «Ich bin sehr unzufrieden mit den Kommentaren der französischen Linken zu einer islamischen Regierung als Alternative zur blutigen Herrschaft des Schahs.» Und sie fügte hinzu, dass Foucault von politischer Spiritualität «tief beeinflusst zu sein scheint, die er als Gegensatz zur Diktatur der kapitalistischen Tyrannei sieht».
In einer kurzen Antwort schrieb Foucault in der folgenden Woche im «Nouvel Observateur», dass es für ihn unerträglich sei, wie die iranische Aktivistin in ihrer Aussage alle Formen des Islams vermenge, um den Islam zu verachten und ihn als intolerant darzustellen. Er weigerte sich, die Kritik der iranischen Frau am politischen Islam zu teilen. Stattdessen schrieb er: «Die erste Bedingung, um dem Islam mit etwas Intelligenz zu begegnen, ist, sich vom Hass fernzuhalten.» Foucault warf der Frau vor, sie habe einen Hass auf den Islam – zu einer Zeit, als das Regime von Khomeiny dabei war, Frauen zu versklaven und politische Dissidenten an den Galgen zu bringen.
So kommt es also, dass Islamkritiker im Westen als «Rechte» verteufelt werden und im Land Allahs als Abtrünnige. Wenn ich nun vor die Wahl gestellt werde, was mir lieber ist, dann entscheide ich mich für Ersteres. Im Westen habe ich keine drakonischen Strafen zu fürchten, sondern nur soziale Ausgrenzung und Rufmord. Damit muss man leben können. Den «Progressiven» wünsche ich hingegen, dass sie niemals in der Gesellschaft leben müssen, die sie herbeischreiben.
Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen
Sebastian says:
Leider bekämpft der Autor hier Strohmannargumente. Es ist ja nun nicht so, dass man in progressiven Kreisen nichts gegen Vollverschleierung oder auch den “politischen Islam” sagen dürfte. Wenn es aber darum geht ungerechte Machstrukturen in einer Gesellschaft abzuschaffen, wie der Kapitalismus eine ist, dann kann ein Verschleierungsverbot mMn keine Lösung sein.
Das Problem liegt also nicht in der Ablehnung der Verschleierung, sondern in dem Machtanspruch und der (ironischerweiße) Verbotskultur der konservativen Politiker.
Ähnliches gilt weiterhin für den “politischen Islam”. Die Kritik an diesem aus konservativen Kreisen könnte ich deutlich ernster nehmen, wenn denn versucht würde z.B. mit Baugenehmigungen für liberale Moscheegemeinden, oder die Unterstützung liberalen islamischen Religionsunterrichtes eine andere Form der Religionsausübung zu fördern.
Wenn also “konservative” Politiker die immer vor einer Verbotskultur warnen beim Islam plötzlich aktiv werden ohne Alternativangebote zu schaffen oder auch nur zu ermöglichen, dann tut es mir leid, aber der Verdacht des mangelhaft verholenen Rassismus liegt nahe.
Ich muss jetzt garnicht damit anfangen, dass im Artikel von Identiätspolitk die Rede ist. Ich bin mir fast sicher, dass der Autor damit eigentlich Intersektionalismus gemeint hat. Zumindest wenn er linke Ideen angreift. Er hat aber offensichtlich nicht verstanden worum es dabei geht.
Peter Sichrovsky says:
Übrigens….In der Kafka-Geschichte ist die Familie erst wieder glücklich, nachdem der Verwandelte tot ist
R. Hagen says:
Hervorragend!
KommentarSpaltenKrieger says:
Hm, ich kann das ganze nicht wirklich überzeugt parieren, jedenfalls grundsätzlich nicht, weil ich Religionskritik für gerechtfertigt halte und im Islam da keine Ausnahme sehe. Aber ein paar Gegenpunkte ließen sich anbringen, selbst, wenn ich diesen ambivalent gegenüberstehe:
– die Verhältnisse sind hier nicht die gleichen wie im Orient. Die Anhänger des konservativen Islam befinden sich nicht in Regierungsverantwortung und haben an der Macht insgesamt einen verschwindend geringen Anteil. Von kultureller Hegemonie kann man im gesamtgesellschaftlichen Sinn nicht sprechen. Die Wahrscheinlichkeit, dass konservative Muslime, die im Westen leben, weniger Zwängen ausgesetzt sind, ist höher. Es ist also möglicherweise ein Lebensentwurf unter vielen – weshalb sollte man da Verbote anbringen, solange es kein Zwang ist und Andersdenkenden gestattet ist, anders zu leben ?
– wird der Islam nicht häufig mit quasi-linken Argumenten attackiert, während sich dahinter ein eher rechtes Ressentiment oder solche Befürchtungen verbergen? Es fehlt vielleicht in vielen Fällen an der Glaubwürdigkeit der in puncto Islam vertretenen Standpunkte, insbesondere, wenn sie von Akteuren kommen, die sonst von Frauen- und Schwulenrechten nicht viel reden möchten. Vielleicht will man sich nicht zum Werkzeug rechter Politiker machen, die, wenn sie in Regierungsverantwortung kämen, keineswegs mehr Liberalität anstreben würden, sondern eine Politik betreiben würden, die eher (Betonung liegt auf eher) in Richtung der ägyptischen oder türkischen Regierung geht als in Richtung linksliberales Aufklärungsverständnis.
– nicht zuletzt könnte man sich fragen, wo es herrührt, dass insbesondere die dritte Generation der in Europa lebenden Muslime zu religiösem Konservativismus neigt (eine Frage, die man sich m.E. bei jedem stark übersteigerten Ideal stellen kann, insbesondere, wenn es sich autoritär auswächst); im sozialwissenschaftlichen Mainstream wird die These vertreten, dass es einen Konnex zwischen gesellschaftlicher Exklusion und stärkerer Rückbesinnung auf die Wurzeln gibt. (Es kann ja niemand sagen, dass das Mainstream-Islamverständnis konservativer Muslime der Lebenswirklichkeit beispielsweise Istanbuls entspräche). Würde nun eine Ausgrenzung erfolgen (Verbot religiöser Bekleidung oder ähnliches) könnten sich diese Tendenzen sogar noch verstärken, wenn der Zusammenhang zwischen beiden Variablen stark und konsistent ist. Man will das eine und bekommt das andere.
Das sind nur Gedanken. Ich habe zu dem Thema keine feste Meinung gefasst, halte die hier angestellten Überlegungen allerdings für bedenkenswert.
Yvonne Stange says:
Ein sehr guter Artikel! Allerdings kann ich persönlich nichts mit dem Begriff Islamismus anfangen, der ist ein Kampfbegriff, erfunden von eigenartigen Leuten, die den wahren Charakter des Islams verschleiern wollen. Der gesamte Islam strotzt nur so von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Quasi werden allen “Ungläubigen” jegliche Menschenrechte abgesprochen – wie ja den islamischen Frauen auch.
Es ist egal, wir werden es nicht ändern, wir sind zu wenige und werden auch immer weniger, während die “anderen” immer mehr werden. Die Demographie ist nicht aufzuhalten. Eurabien wird kommen. Ich haben die Gnade der frühen Geburt und keine Enkel. Ein Glück.