Dass Muslime als Individuen längst Teil Europas sind, wird niemand bestreiten wollen. Ein europäischer Islam aber, der mit demokratischen und humanistischen Werten vereinbar ist, liegt nach wie vor in weiter Ferne.

Seit Jahren führt die Frage, ob der Islam zu Europa gehört, zu kontroversen Debatten. Die Fronten verlaufen vor allem zwischen jenen, die diese Frage mit einem uneingeschränkten Ja beantworten, und jenen, die sich kategorisch dagegen verwahren. Tatsache ist: Ein europäischer Islam, der mit demokratischen und humanistischen Werten vereinbar ist, liegt in weiter Ferne.

Muslime sind als individuelle Bürgerinnen und Bürger längst Teil Europas, das ist unbestritten. Dennoch ist es legitim, angesichts der Herausforderungen, mit denen sich europäische Länder durch den politischen wie auch den traditionellen Islam konfrontiert sehen, über die Natur und die Grenzen der Beziehung zwischen Europa und Muslimen nachzudenken. Es fragt sich, was das Leben europäischer Muslime in erster Linie definiert.

Individualismus contra Kollektivismus

Der Islam ist kein monolithisches Glaubensgebilde, es gibt in diesem Sinne nicht den Islam. Die jeweilige religiöse Ausrichtung untersteht kulturellen, ethnischen und individuellen Einflüssen. Das Hauptaugenmerk hier liegt auf zwei Hauptströmungen: auf dem politischen Islam, der europäischen Gesellschaften ein fundamentalistisches Verständnis des Korans aufdrängen und Institutionen sowie das öffentliche Leben nach dem Weltbild der Scharia formen will, sowie auf dem traditionellen Islam, der durch die erste Generation muslimischer Einwanderer nach Europa gebracht wurde.

Es fragt sich, was das Leben europäischer Muslime primär definiert.

Beim traditionellen Islam handelt es sich um eine soziokulturelle Form des Islam, die zwar nicht darauf abzielt, Nichtmuslimen die Scharia aufzuzwingen, die sich aber nichtsdestoweniger mit dem Individualismus inner- und ausserhalb der muslimischen Gemeinschaft schwertut. So befindet sich der traditionelle Islam häufig im Konflikt mit Angehörigen seines Kulturkreises, die einen säkularen Lebensstil pflegen wollen. Gar manche Vorsteher islamischer Gemeinschaften und leider viel zu oft auch muslimische Ehemänner, Väter, Onkel, Brüder und Cousins respektieren den Wunsch muslimischer Individuen nach Freiheit nicht. Stattdessen versuchen sie, ihre eigenen Werte und Wahrnehmungen der ganzen Gemeinschaft aufzudrängen. Darunter leiden vor allem die Frauen.

Während der europäische Liberalismus das Individuum und dessen Recht auf Autonomie betont, stellt der Islam grundsätzlich das Kollektiv über das Individuum. Danach hat sich der Einzelne der Gemeinschaft, der Umma, unterzuordnen. Nicht umgekehrt. Entsprechend wird versucht, die individuelle Freiheit mittels religiöser Tabus und Gebote zu beschränken. Jede Zurückweisung dieser Einflussnahme gilt als Verrat an der eigenen Religion. Die Errungenschaften der westlichen Aufklärung bleiben dem «wahren» Muslim versagt – sei es die freie Kleiderwahl von Frauen, das Recht zu lieben, wen man will, das Recht der Frau, einen Nichtmuslim zu heiraten, oder sei es das Recht auf vorehelichen Geschlechtsverkehr oder das Recht, der Religion abtrünnig zu werden.

Schuld, Schande, Verrat

Kein Wunder, sind viele europäische Musliminnen und Muslime hin- und hergerissen. Einerseits sehen sie sich auf Gedeih und Verderb der Loyalität gegenüber ihrer Religion verpflichtet, andererseits sind sie mit der Freizügigkeit einer säkularen Gesellschaft konfrontiert, die sie nicht als Teil eines Kollektivs sieht, sondern als Einzelpersonen wahrnimmt, die für ihre Handlungen selbst verantwortlich sind. Das gängige Narrativ von Schuld, Schande und Verrat, das vom Islam aufrechterhalten wird, fördert diese Widersprüchlichkeit noch zusätzlich.

Die grundlegende Ambivalenz macht insbesondere jungen Muslimen das Leben schwer. Sie behindert nicht nur ihre gesellschaftliche Integration, sondern macht einige von ihnen empfänglich für radikalislamisches Gedankengut. Denn in ihrer Situation erscheint der Rückgriff auf strikte Religiosität als Erlösung, als ein Weg, für begangene weltliche «Sünden» zu büssen. Und genau darauf verlassen sich die Rattenfänger extremistischer Gruppierungen. Eben so wurden auch die Attentäter von Brüssel und Paris rekrutiert.

Die Ausbreitung einer religiös-extremistischen Interpretation des Islam, für die die Religion nicht nur ein persönliches Glaubensbekenntnis, sondern auch ein soziales und politisches Programm ist, trägt zur Isolierung europäischer Muslime von ihrem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld bei. Diese fundamentalistische Auslegung wird nicht zuletzt auch von muslimischen Intellektuellen gefördert, die als Mitglieder oder Sympathisanten der Muslimbruderschaft bekannt sind.

Ein Beispiel hierfür ist der in Genf wohnhafte Schweizer Staatsbürger Tariq Ramadan, der Enkel des Theologen und Gründers der ägyptischen Muslimbruderschaft Hassan al-Banna. In seinem Buch «Muslims in Secularism: Responsibilities and Rights of Muslims in Western Societies» argumentiert er, dass der Islam nicht nur eine Religion, sondern ein Regelwerk für jegliche Lebenssituation sei. Ramadan sowie andere einflussreiche islamische Gelehrte und Kleriker plädieren dafür, dass der Islam für Muslime in Europa quasi eine zweite Natur, eine Lebensart sein soll. Längst ist Ramadan zur Identifikationsfigur geworden, seine Ideen fallen auf fruchtbaren Boden. Die wachsende Religiosität der zweiten und dritten Generation europäischer Muslime, allem voran die Popularität des politischen Islam in Frankreich, zeugt davon.

Auf das Individuum fokussieren

Gehört nun also der Islam zu Europa? Wird die Frage in dieser Form gestellt, geht es weniger um die Möglichkeit, Muslime als Individuen, als darum, den Islam per se zu integrieren. Abgesehen davon, dass dies nicht das Ziel europäischer Integrationspolitik sein darf, steht zu bezweifeln, dass eine Mehrzahl von Muslimen in Europa überhaupt integriert werden will. Denn wie diverse Erhebungen zeigen, lehnen viele Muslime die universellen Menschenrechte immer noch ab. Sie pochen stattdessen auf die Unantastbarkeit der Scharia und beharren auf der Notwendigkeit von deren Umsetzung.

Eine kürzlich durchgeführte Umfrage des Think-Tanks European Values belegt, dass 44 Prozent der Muslime in Europa fundamentalistischen Glaubenssätzen anhängen. Viele halten Fatwas aus der einstigen Heimat, in denen Imame sich dafür aussprechen, Abtrünnige zu töten, für verbindlich. So hat etwa der sogenannte Europäische Rat für Fatwa und Forschung, der Teil des Netzwerks der Muslimbrüder ist, in Wahrheit nichts mit Europa und seinen säkularen Werten zu tun. Dieser Rat, der vom militanten ägyptischen Kleriker Yusuf al-Qaradawi geleitet wird, liess verlauten, dass Apostasie, der Abfall vom Glauben, eine Bedrohung für den Islam sei und Muslime überall die Pflicht hätten, Abtrünnige zu bekämpfen.

Obwohl eine Mehrheit der Muslime in Europa Gewalt ablehnt, ist es aufgrund des Fehlens individueller Freiheiten, des Mangels an Frauen- und Kinderrechten sowie der Sympathie, die der politische Islam inzwischen in der zweiten und dritten Generation europäischer Muslime geniesst, schwer möglich, heute von einem europäischen Islam zu sprechen. Der Traum oder vielmehr das Projekt eines menschenfreundlichen Islam, der mit den modernen demokratischen Werten vereinbar ist, ist noch eine Utopie. Zumindest so lange, bis die Idee eines humanistischen Islam in muslimischen Ländern selbst an Popularität gewonnen hat.

Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen

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