„Wären sie von der Strafe für den Glaubensabfall befreit worden, gäbe es den Islam heute nicht mehr.“
Yusuf al-Qaradawi, islamischer Theologe und Vorsitzender der Internationalen Union muslimischer Gelehrter, über Apostaten
Es gibt keinen islamischen Staat und auch keine islamische ‚Republik‘, die Gedanken- und Glaubensfreiheit garantierte. Religiöse Minderheiten in muslimischen Mehrheitsgesellschaften wie etwa Christen leiden unter gesellschaftlicher Unterdrückung. Auch Apostaten sehen sich oft gnadenloser Repression ausgeliefert, da das Verlassen der Religion als unverzeihbares Tabu gilt. Unter Verfolgung und Gesetzen, die nicht nur den Glaubensabfall, sondern auch jede Religionskritik kriminalisieren, leiden religiöse Minderheiten, ex-muslimische Individuen und säkulare muslimische Liberale gleichermaßen.
Obgleich die Bestrafung derjenigen, die keiner Religion mehr angehören wollen, gemäß den vier wichtigsten islamischen Rechtsschulen die Todesstrafe ist, und es 13 muslimische Länder gibt, in denen Glaubensabfall und Religionskritik mit dem Tode bestraft werden, sind die Chancen von Ex-Muslimen aus muslimischen Ländern auf ein Bleiberecht in Europa sehr gering; der Austritt aus dem Islam oder der Wechsel zu einer anderen Religion ist meist kein hinreichender Grund für politisches Asyl. Der Asylbewerber muss beweisen, dass er in seinem Herkunftsland unter islamischer Herrschaft einer direkten Gefahr ausgesetzt ist. Und die meisten derjenigen, denen in Europa schließlich doch politisches Asyl gewährt wird, sind meist nicht nur Ex-Muslime, sondern auch politische Aktivisten, Schriftsteller oder Blogger, die entweder direkt mit dem Tod bedroht oder wegen Blasphemie zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden.
Ein erfreuliches Beispiel von einem, der gerade noch einmal davongekommen ist, ist die Geschichte des bangladeschischen Aktivisten und Bloggers Azam Khan. Er erhielt in der Schweiz Asyl, nachdem er aus seinem Land wegen einer von islamistischen Gruppen angeführten Serie von Morden gegen säkulare und atheistische Blogger fliehen musste. Doch die religiöse Verfolgung in muslimischen Gemeinschaften beschränkt sich nicht auf Atheisten, sondern trifft alle, die den Islam ablehnen oder kritisch betrachten. Verfolgt wird ebenfalls, wer zum Christentum konvertiert. Der Vorwurf der Religionsverachtung trifft manchmal sogar einige liberale Muslime, die das fundamentalistische, religiöse Erbe kritisieren: Islam Bahiri ist ein liberaler religiöser Reformer, der 2015 wegen „Missachtung des Islam“ verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde.
Was die religiösen Minderheiten und Individuen in muslimischen Ländern vereint, ist nicht nur ihre bedauerliche Situation, sondern auch ihre gemeinsame Sehnsucht: Trotz ihrer unterschiedlichen religiösen Tendenzen (Atheisten, Christen, säkulare Muslime) ist es das gemeinsame Ziel, moderne säkulare Staatswesen zu schaffen, die die Rechte von Angehörigen aller Religionen und Glaubensrichtungen garantieren – nicht nur von denen, die mit der Religion des jeweiligen muslimisch dominierten Staates einverstanden sind. Nicht zuletzt dies ist mit ein Grund dafür, warum die meisten religiösen Minderheiten in der islamischen Welt säkular orientiert sind, im Gegensatz zu muslimischen Minderheiten in Europa, die sich nicht selten im Konflikt mit Säkularismus und Individualität befinden, insbesondere wenn es um Fragen der Rechte der Frau und ihrer individuellen und sexuellen Freiheiten geht.
Obwohl wir im Land der Freiheit sind, geht das Leiden weiter
Vom Land Allahs in das westliche Land der Freiheit zu fliehen, bedeutet für viele indes nicht, dass die religiöse Verfolgung aufhörte. Einige Flüchtlinge werden von anderen Flüchtlingen wegen ihrer Religionszugehörigkeit belästigt, insbesondere in Flüchtlingsaufnahmezentren. Muslimische Asylsuchende zeigen oft keine Toleranz gegenüber ihren Kollegen, wenn sie entdecken, dass diese Ex-Muslime sind. Diese negative Haltung wird von muslimischen Flüchtlingen aus ihren Heimatländern importiert und von ihnen aufrechterhalten, obwohl die Glaubens- und Meinungsfreiheit durch die Verfassungen der europäischen Aufnahmeländer gewährleistet ist.
Liberalität und die Kultur des leben und leben lassen ist den meisten muslimischen Asylbewerbern unbekannt. Für sie ist Religion ein wesentlicher Bestandteil von Zugehörigkeit und Identität. Daher wird ein Ex-Muslim als Verräter angesehen, dem man nicht trauen kann und der deshalb bestraft gehört. Meine Erfahrungen im Asylzentrum Vallorbe in der Westschweiz im Jahr 2011 und die Erfahrungen anderer ehemaliger Muslime in der Schweiz und in Deutschland bestätigen dies.
Der 18-jährige Amed Sherwan etwa musste den Irak verlassen, nachdem er verhaftet und gefoltert worden war, weil er erklärt hatte, er glaube nicht an Allah. Sein Leiden endete aber nicht nach seiner Ankunft in Deutschland: Nachdem er einen Artikel mit dem Titel „Atheismus als Asylgrund“ in der lokalen mehrsprachigen Zeitschrift Moin Flensburg veröffentlicht hatte, wurde Amed als Folge davon von einem anderen Flüchtling aus dem Jemen schikaniert und mit dem Tod bedroht: „Zuerst hat er mich als kafir bezeichnet, als Ungläubigen. Dann hat er mir ins Gesicht gesagt: ‚Ich schneide dir den Kopf ab, und wenn es das Letzte ist, was ich in Deutschland tue‘“, sagte Amed zur Jungle World.[2] Nachdem er am Berliner CSD 2018 ein T-Shirt mit der Aufschrift „Allah is gay“ trug, musste er wegen akuter Morddrohungen von der Polizei geschützt werden.
Verantwortung gegenüber den Stimmlosen
Viele Ex-Muslime, die islamische Länder verlassen, haben ein Verantwortungsgefühl gegenüber religiösen Minderheiten, die in der muslimischen Welt ihre Rechte nicht einfordern oder für sich selbst sprechen können. Es motiviert viele in Europa, die Meinungsfreiheit zu nutzen, um die Realität der fehlenden individuellen Freiheiten in muslimischen Gesellschaften zu beleuchten. Doch das bringt sie in eine andere Art von Schwierigkeiten: Wenn Ex-Muslime die unmenschlichen Praktiken und Rechtsverletzungen im Namen des Islam und der religiösen Texte kritisieren, die die Unterdrückung von Minderheiten und Apostaten in muslimischen Gesellschaften rechtfertigen, werfen manche Linken den Islamkritikern Rassismus und Feindseligkeiten gegen Muslime vor. Oft wird einem sogar unterstellt, man verbünde sich mit der extremen Rechten.
Dieser Umgang der islamsensiblen, kulturrelativistischen westlich-antiwestlichen Linken mit dem Thema Minderheiten in der muslimischen Welt und „Minderheiten innerhalb von Minderheiten“ in westlichen Gesellschaften ist ein expliziter Rückzug von den Werten des Säkularismus und der Aufklärung zugunsten religiöser Identitätsdiskurse unter dem Vorwand von Toleranz und Multikulturalismus. Einige Linke betrachten Minderheiten nicht als Individuen mit unterschiedlichen religiösen und politischen Zugehörigkeiten, sondern als homogene Gruppe. Dieser ideologische Blick ignoriert Spaltungen, Konflikte und interne Verfolgung innerhalb von Minderheiten und legitimiert Menschenrechtsverletzungen unter dem Vorwand der Verteidigung des Multikulturalismus, was eine Leugnung der Universalität von Werten und Menschenrechten darstellt. Wenn vom Islam erniedrigte, geknechtete Menschen, denen unter der Herrschaft des Islam Grauenhaftes widerfahren ist, auf der ganzen Welt ihre universellen Rechte einfordern, lautet die Antwort dieser regressiven Linken: „Das ist rassistisch und islamfeindlich.“
Liberale Ex-Muslime in Europa können keineswegs als islamfeindlich betrachtet werden. Ihre Arbeit ist eine mutige und wichtige, aufklärerische Handlung gegenüber einem religiösen Regime, das Millionen von Menschen auf der ganzen Welt verfolgt. Das macht die Kritik am Islam in diesem Kontext zu einem legitimen Akt der Selbstverteidigung, fern von jeglicher Feindseligkeit oder Fanatismus gegenüber Muslimen. Es ist auch wichtig, nicht zu vergessen, dass es viele säkulare Muslime gibt, die nicht zögern, die Rechte religiöser Minderheiten im Islam zu verteidigen. Kurzum: Es sind die Angst und Tabuisierung der Kritik am Islam, die zu einer Atmosphäre führen, in der wir nicht mehr zwischen Feindseligkeit gegenüber Muslimen als Individuen und Kritik an Ideen und Ideologien unterscheiden können.