Marokkanische Frauen haben in den sozialen Netzwerken für Furore gesorgt, indem sie anzügliche Videos auf die Plattform Youtube gestellt haben. Diese Clips, die die Liste der meistgeklickten auf Youtube anführen, zeigen leicht bekleidete Frauen zwischen Kühlschrank und Herd. Einige von ihnen geben Tipps, wie Frauen ihre Männer nicht nur am Esstisch, sondern auch im Bett bezaubern können.
Diese Frauen sind zu Stars geworden. Oder wie man es im Westen nennt: Influencerinnen, mit Hunderttausenden von Abonnenten und Millionen von Zuschauern. Es handelt sich um ein erstaunliches Phänomen für eine konservative Gesellschaft. Diese Frauen sprechen aber nicht nur zu den Marokkanerinnen und Marokkanern, die ihre Videos liken oder sie kritisieren, sondern auch zu uns, hier im Westen. Und sie haben einiges zu sagen.
Ein Blick hinter den Schleier
Die Videos müssen im Kontext Marokkos gedeutet werden. Die Kleider, in denen diese Frauen auftreten, sind keine Dessous oder dergleichen, sondern Nachthemden, Oversize-Shirts oder bequeme Homedresses. Für westliche Augen sind die Videos auf den ersten Blick vollkommen unspektakulär. «Sie sind langatmig und wirken geradezu kindlich-naiv», sagt die Journalistin und Nahostexpertin Helene Aecherli. «Erst auf den zweiten Blick wird erkennbar, wie subversiv die Filme sind, welche gesellschaftspolitische Sprengkraft ihnen innewohnt. Denn sie erlauben es den Zuschauenden buchstäblich, hinter die Schleier einer Gesellschaft zu sehen.»
Was die Konservativen an diesen Videos provoziert hat, ist nicht ihre angebliche Obszönität, sondern dass sie zeigen, was nicht zur Schau gestellt werden darf. Dass sich die Hausfrauen in ihrer häuslichen Umgebung und in privater Kleidung zeigen, wird als eine Verletzung der Männerehre gesehen. Als ein Verstoss gegen die Exklusivität des Mannes gegenüber seinen Frauen. Kurz: Diese Videos sind der Hammer in den Händen der Frauen, der die Mauern des Haremgefängnisses einreisst.
Aufruf zu Stränden ohne Bikinis
Man darf dabei nicht vergessen, dass Marokko ein Land ist, dessen Gesetze noch immer die Schlafzimmer der Bürgerinnen und Bürger beschatten, ein Land, in dem sexuelle Beziehungen ausserhalb der Ehe noch immer als Straftat gelten, in dem Islamisten jeden Sommer zu Stränden ohne Bikinis aufrufen und in dem erst vor einigen Jahren zwei junge Frauen wegen «Störung der öffentlichen Schamhaftigkeit» verhaftet wurden, da sie «unanständige» Kleidung trugen: Minijupes.
Die Video-Inszenierungen der Frauen haben bei den Konservativen heftige Reaktionen ausgelöst. Auch einige Feministinnen betrachten das Phänomen als eine Art unwürdige Objektivierung des weiblichen Körpers und eine Aufrechterhaltung des untergeordneten Status der Frau. Die Konservativen hingegen fordern die Verhaftung von Frauen, deren Inhalte im Internet als Beleidigung der «islamischen Werte der Gesellschaft» angesehen werden. So rief etwa Amina Faouzi Zizi, die Parlamentarierin der gemässigten Islamischen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, den Justizminister auf, rechtlich gegen die Verbreitung von «Schamlosigkeit und Unverschämtheit in den sozialen Netzwerken» vorzugehen, um die Moral von Jugendlichen zu schützen und den «öffentlichen Geschmack aller Marokkaner» zu wahren.
Dabei haben diese Frauen nur das an die Öffentlichkeit gebracht, was die patriarchalische Gesellschaft als deren naturgegebene Rolle versteht: nämlich sich zu schminken, im Haus zu verweilen, zu kochen und die Wünsche des Ehemannes aufrichtig zu erfüllen. Was hier allerdings neu ist, sind der Akt der Zurschaustellung des Körpers und seine teilweise Enthüllung in der Öffentlichkeit. Dementsprechend sind diese Videos eine Revolution aus der Küche heraus gegen eine gesellschaftliche Realität, die die Freiheit des weiblichen Körpers nur innerhalb der Mauern des Hauses zulässt.
Ein bisschen Freiheit an der Volkshochzeit
Die Moral dieser Youtube-Frauen ist eine Moral von «unten», die flexibler und toleranter gegenüber dem Körper ist. Sie beschränkt sich nicht auf das Phänomen Youtube, sondern ist auch Ausdruck der vorherrschenden, aber zugleich verstummten Moral der Gesellschaft, die sich gelegentlich bei Volkshochzeiten zeigt, wo Männer und Frauen gemeinsam tanzen. Diese folkloristischen Tänze, die nicht frei sind von sexuellen, körperlichen Untertönen, erfüllen die Funktion einer psychotherapeutischen Behandlung: Sie schaffen einen Raum der Freiheit, den es Frauen wie Männern erlaubt, dem moralischen, religiösen und politischen Druck von oben zu entgehen.
Die Moral von unten ist auch die der Frauen, die ihr Sexualleben vor der Ehe – wenn auch diskret – leben, die aber, sobald die Moral von oben ins Spiel gerät, in Kliniken eilen, die Operationen zur Wiederherstellung des Hymens anbieten. Nagib Mahfuz, der grosse ägyptische Romancier, hat in seinen Romanen auf brillante Weise das ambivalente Verhalten der arabischen Gesellschaften thematisiert, die zwischen der Moral von oben und jener von unten oszillieren. Sie sind sozusagen zur Doppelmoral verdammt, weil Islamisten, die vielerorts zum Machtapparat der jeweiligen Länder gehören, die individuelle Freiheit durch eine islamische «Biopolitik» restriktiv regeln.
Bruch im Bild der muslimischen Frau
Was aber hat das mit uns zu tun? Diese Geschichte der fast schon todesmutig frivolen marokkanischen Youtuberinnen konfrontiert uns zumindest in ihrer sozialen Dimension mit Themen, die westliche Vorstellungen von konservativen muslimischen Gesellschaften herausfordern. Diese Frauen brechen, zumindest formal, mit dem Bild der verschleierten muslimischen Frau, das in westlichen Medien gewöhnlich als Symbol des Islam oder der muslimischen Kulturen schlechthin dargestellt wird. Ein Symbol, das in Wahrheit wenig mit der Realität vieler muslimischer Frauen weltweit zu tun hat, sondern vielmehr ein Produkt einer konservativen, nach Europa eingewanderten Mittelschicht ist, die durch das islamische Erwachen der letzten drei Jahrzehnte beeinflusst wurde.
Die Youtuberinnen werfen also implizit Fragen auf, die gerade progressive westliche Denker und gerade auch Feministinnen vor ein Dilemma stellen: Wie lassen sich Frauen in Marokko angesichts einer reduktionistischen Identitätspolitik repräsentieren? Wie kann eine «Woke»-Ideologie diesen Schrei nach individueller Freiheit, die den Youtube-Videos unweigerlich innewohnt, einordnen? Eine Ideologie, die in weiten Teilen auf dem Denkmuster Frantz Fanons gründet, des französischen Psychiaters und Vordenkers der postkolonialen Theorie. Fanon bringt sie so auf den Punkt: «Jeder abgelegte Schleier, jeder Körper, der sich von den traditionellen Fesseln des Schleiers befreit», ist eine «Vergewaltigung durch den Kolonialismus».
Brüder und Schwestern im Geiste
Die muslimische Frau, so die Perversion der postkolonialen Ideologie à la Fanon, sollte lieber konservativ und verschleiert sein. Andernfalls würde sie «die westliche Mittelschichtsfrau als Massstab der Befreiung nehmen». An diesem Punkt erscheinen die Islamisten, die die Youtube-Frauen in den Kerker werfen wollen, und die neuen Linken, die die Befreiung fremder Kulturen von der westlichen Hegemonie anstreben, als Brüder und Schwestern im Geiste. Die Islamisten verschleiern die Frauen, und die, die sich gerne progressiv geben, liefern ihnen Argumente dafür.
Der indische Wirtschaftswissenschafter und Philosoph Amartya Sen hat mit seinem Konzept der «Pluralität der Zugehörigkeiten» gezeigt, dass die persönliche Freiheit umso mehr gestärkt wird, je weniger das Individuum auf eine bestimmte kulturelle Identität reduziert wird: Die Kategorisierung von Individuen nach unterschiedlichen Kulturen und Identitäten führt nicht zur Entfaltung der Freiheit, sondern zu ihrer Restriktion. Die Youtube-Frauen in Marokko entziehen sich einer eindimensionalen Deutung, denn sie bewegen sich in mehreren, manchmal konträren kulturellen Zusammenhängen, was folglich ihren Freiheitshorizont erweitert.
Islamische Partei fordert Gefängnisstrafen
Die islamische PJD-Partei im marokkanischen Parlament erklärte in ihrer Interpellation an den Justizminister gegen die Youtube-Frauen, dass «das Strafgesetzbuch gemäss Paragraf 483 die öffentliche Verletzung der Moral mit einer Gefängnisstrafe von einem Monat bis zu zwei Jahren ahndet». Bis jetzt hat das Justizministerium noch keine Anordnung gegen die Youtube-Frauen erlassen, während die islamistische Fraktion, die die Interpellation eingereicht hat, nicht mehr die stärkste Fraktion im Parlament ist: Bei den letzten Wahlen im September verringerte sich ihre Sitzzahl von 125 auf 13. Die Frauen posten weiterhin ihre Videos, und Millionen von Marokkanerinnen und Marokkanern sind weiterhin dabei.
Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen