Gemeinsam mit Lucien Scherrer habe ich Masih Alinejad am 18.02.2022 für die NZZ interviewt: 

Mit dieser Frau Kontakt aufzunehmen, ist in Iran verboten. Wer ihr Videos schickt, etwa von Frauen, die aus Protest gegen patriarchale Gesetze das Kopftuch ablegen, riskiert eine Gefängnisstrafe von bis zu zehn Jahren. Doch auch die Journalistin und Regime-Kritikerin Masih Alinejad selber lebt gefährlich, obwohl sie seit 2019 US-Bürgerin ist. Wie das FBI im letzten Sommer bekanntgab, wurde Alinejads Wohnung in Brooklyn auf Geheiss iranischer Geheimdienstleute von Privatdetektiven und Kameras ausspioniert – mit dem Ziel, die 45-Jährige zu entführen und via Venezuela nach Iran zu verschleppen (Iran bezeichnet die Vorwürfe als lächerlich).

Alinejad ist gut aufgelegt, als sie die NZZ an diesem Morgen in ihrer Wohnung zum Zoom-Interview empfängt – leicht verspätet, weil sie ihre ikonische Frisur in Ordnung bringen musste.

Frau Alinejad, Ihre Haare sehen prächtig aus. Wie haben Sie es geschafft, diese Frisur unter einen Hijab zu bringen in Iran?

In Iran war das sehr, sehr schwierig. Jeden Morgen habe ich meine Haare mit dem Föhn geglättet, damit sie unter das Kopftuch passten. Ich habe also mein Haar zerstört. Und ich kenne viele Frauen mit langen, vollen Haaren, die das gleiche Problem hatten.

Was passiert mit Frauen, die ihre Haare nicht gebührend zähmen?

Kürzlich habe ich das Video einer Frau gepostet, die so lange Haare hatte, dass es unmöglich war, sie ganz zu bedecken. Die Sittenpolizei hat sie verfolgt und ihr gesagt, wenn sie das nächste Mal so auf die Strasse gehe, werde man ihr die Haare abschneiden. Einer anderen Schülerin wurden von der Lehrerin die Haare geschnitten, weil sie zu lang waren. Sie sehen also, es ist ein Problem, zu viele Haare zu haben. Ich weiss, das ist nicht lustig. Ich versuche, Witze darüber zu machen, aber es ist tragisch, dass so etwas im 21. Jahrhundert passiert. Ich meine, was ist der Unterschied zwischen meinen Haaren und euren?

Sie haben ein bisschen mehr . . .

Ehrlich gesagt, die offizielle Begründung ist so dumm, wie sie klingt: Frauen müssen ihre Haare bedecken, weil ihr Männer dadurch sexuell erregt werdet. Stellt euch vor, ich würde euch sagen, bedeckt euer Haar, oder ich werde euch sexuell belästigen, ins Gefängnis stecken, vergewaltigen. Leider ist dies der Kerngedanke dieses frauenfeindlichen Narrativs: Frauen müssen ihr Haar bedecken, weil sie Männer sonst sexuell anziehen. Nehmen wir einmal an, das stimmt: Warum werden dann sogar kleine Mädchen im Alter von 7 Jahren gezwungen, sich zu verhüllen? Will man damit sagen, dass ein 7-jähriges Mädchen Männer sexuell erregen kann?

Sie sind als Mädchen in einem kleinen Dorf im Norden Irans aufgewachsen. Erinnern Sie sich an den Tag, als Sie den Hijab zum ersten Mal tragen mussten?

Um ehrlich zu sein, ich weiss das nicht mehr so genau. Normalerweise müssen Mädchen das Kopftuch ab dem siebten Lebensjahr tragen, wenn sie eingeschult werden. Bei mir war das anders. Ich musste es auch im Haus tragen, weil mein Vater traditionell und religiös war. Meine Revolution, mein Protest gegen die Hijab-Pflicht begann schon sehr früh. Ich musste mir meine Rechte erst von meinen männlichen Verwandten, meinem Vater und dann von der Gesellschaft zurückholen. Aber es war sehr schwierig, denn alle meine weiblichen Verwandten waren verschleiert. Es gibt ein Familienfoto, auf dem alle verschleiert sind, ausser mir. Ich fühlte mich wie ein hässliches Entlein.

Wie hat Ihre Familie auf Ihre Rebellion reagiert?

Zuerst habe ich den Hijab nur im Haus abgelegt, wenn mein Vater nicht da war. In der Schule mussten wir einen Tschador tragen, und den steckte ich immer in meinen Tornister, wenn ich nach Hause ging. Als mein Vater mich einmal so auf der Strasse sah, spuckte er mich vor meinen Freunden an und sagte: «Du bringst Schande über die Familie, du bist nicht meine Tochter.» Diesen Moment vergesse ich nie. Ich liebe meinen Vater. Ich möchte nicht, dass andere über ihn urteilen, denn ich glaube, dass er von der Regierung einer Gehirnwäsche unterzogen wurde. Aber dieser Moment war der Auslöser für meinen Aktivismus, von welchem es kein Zurück mehr gab. Es war das erste Mal, dass ich sagte: «My body, my choice».

Im Westen wird das Motto «My body, my choice» gerne von Feministinnen verwendet. Manche von ihnen verteidigen auch den Hijab – als Symbol für die Emanzipation muslimischer Frauen.

Das ist die Normalisierung einer frauenfeindlichen Praxis im Namen der Vielfalt.

Warum?

Das Konzept des Hijab beruht nicht auf einer freien Entscheidung, sondern auf einer religiösen Pflicht und der Geschlechtertrennung. Es gibt familiären Druck, sozialen Druck, emotionalen Druck und vor allem religiösen Druck, der den Frauen sagt, dass sie sich verhüllen müssen, wenn sie nicht in der Hölle schmoren wollen. Wir Frauen in Iran stehen also jeden Morgen vor dem Spiegel – nicht, um so auszusehen, wie wir wollen, sondern um so auszusehen, wie jemand anderes uns haben will, unsere Männer, unsere Väter, die Regierung. Sie nehmen dir deine ganze Würde. Jeden Tag musst du das sichtbarste Symbol einer frauenfeindlichen Ideologie an deinem Körper tragen.

Ist dies die Ansicht einer Mehrheit? Viele iranische Frauen scheinen den Hijab wie ein schickes Accessoire zu tragen.

Es ist mir egal, ob es eine Mehrheit ist oder nicht. Für mich ist es ein Problem, wenn auch nur eine einzige Frau das Kopftuch nicht tragen will. Ich kämpfe für diese eine Person. Stellen Sie sich vor, auch nur eine einzige Frau im Westen wird auf der Strasse zusammengeschlagen, nur weil sie unverschleiert ist. Also stellen Sie diese Frage gar nicht erst.

Der Europarat wollte kürzlich eine von islamistischen Gruppen mitlancierte Initiative unterstützen, die mit dem Slogan «Freedom is in Hijab» warb. Kritiker der Initiative wurden als «islamophob» diffamiert. Was denken Sie, wenn Sie von solchen Aktionen hören?

Es macht mich wütend. Das ist wie «Krieg ist Frieden» oder eine Art von «alternativen Fakten» à la Trump. Ich wurde in Iran im Namen der Blasphemiegesetze unterdrückt und zensiert. Und jetzt werde ich im Namen der «Islamophobie» im Westen zensiert und unterdrückt. Ich appelliere an alle Mitglieder des Europäischen Parlaments und der EU: Wenn Sie wirklich glauben, dass Freiheit bedeutet, einen Hijab zu tragen, lade ich Sie ein, in Iran unter der Scharia zu leben und mir zu berichten, wie frei Sie sich fühlen.

Wie erklären Sie sich, dass viele Leute im Westen lieber von «Islamophobie» sprechen, als die Ideologie von islamistischen Bewegungen zu bekämpfen?

Sie wollen politisch korrekt sein, aber sie verstehen nicht, dass sie damit islamische Regime stärken. Ja, es gibt Bigotterie gegen Muslime, und wir alle sollten sie bekämpfen, aber man kann nicht wie Ilhan Omar über die sogenannte «Islamophobie» sprechen, ohne zu verstehen, dass meine Angst und die Angst von Millionen, die unter der Scharia und der islamischen Ideologie leben, keine Phobie, sondern Realität ist. Wie kann man keine Angst davor haben, verhaftet und ausgepeitscht zu werden, wenn man seinen Hijab abnimmt, oder wegen Apostasie (Abfall vom Glauben, Red.) gehängt zu werden? Die Feministinnen im Westen, natürlich nicht alle, aber insbesondere die Politikerinnen, haben uns verraten.

Haben Sie konkrete Beispiele?

Einige Parlamentarierinnen legen den Hijab an, wenn sie nach Iran reisen. Als ich sie kritisierte, antworteten sie: «Wissen Sie, ich wollte Irans Kultur respektieren.» Ich sagte: «Indem Sie ein diskriminierendes Gesetz als ‹Kultur› bezeichnen, beleidigen Sie eine Nation. Denn Millionen von Iranern bekämpfen diese schlechte Kultur.» Wenn deutsche Grüne der Meinung sind, dass sie in einem Land, in dem der Hijab oder sogar die weibliche Genitalverstümmelung vorgeschrieben ist, die ‹Kultur› respektieren sollten, dann sollen sie das. Aber sie sollten sich bewusst sein, dass ihre Schwestern, die gegen diese «Kultur» kämpfen, unter diesem falschen Narrativ im Westen leiden.

Letztes Jahr gaben die US-Behörden bekannt, dass Agenten der iranischen Regierung Sie in den USA entführen wollten. Warum hat man solche Angst vor Ihnen?

Wie Sie sehen, bin ich eine furchtlose Frau. Und sie fürchten furchtlose Frauen. Es ist nicht leicht, über diese Dinge zu sprechen. Ich erhalte täglich Drohungen. Stellen Sie sich vor, ich bin aufgewacht, schalte den Fernseher ein, und ein Nachrichtensender in Iran berichtet, dass ich von drei Männern vor den Augen meines Sohnes vergewaltigt worden sei, weil ich mich ausgezogen hätte. Und das Fernsehen berichtet das in fröhlichem Ton. Das waren Fake News, aber man sieht, was diese Leute für Phantasien haben. Die denken, dass ich es verdient habe, vergewaltigt zu werden. Stellen Sie sich vor, was die mit mir machen werden, wenn sie mich verhaften.

Ein anderer Journalist, Ruhollah Zam, wurde 2019 von Frankreich in den Irak gelockt und von Sicherheitskräften nach Iran entführt, wo er zum Tode verurteilt wurde.

Nachdem er hingerichtet worden war, publizierten iranische Medien Bilder von mir, mit einem Strick um den Hals. Ein Abgeordneter sagte sinngemäss: «Wir haben ihn hingerichtet, jetzt ist Masih Alinejad die Nächste.»

Vor Ihrer Flucht in die USA haben Sie als Journalistin in Iran gearbeitet. Was haben Sie dort erlebt?

Journalisten haben es in Iran nicht leicht, weder Frauen noch Männer. Aber als oppositionelle Journalistin steht man doppelt unter Druck. Ich habe zum Beispiel die Mullahs kritisiert, wie korrupt sie sind und wie viel Geld sie bekommen. Ich erinnere mich an ein Interview mit einem Politiker, der sich weigerte, Fragen zu beantworten, wenn ich meinen Hijab nicht korrekt trug. Man hat mir auch vorgeworfen, dass ich mit Parlamentsmitgliedern flirten würde, dass ich sexuelle Beziehungen hätte, um an meine Informationen zu kommen. Stellen Sie sich vor, als verheiratete Frau können Sie für solche Anschuldigungen gesteinigt oder gehängt werden! Im Westen bekommt man eine Auszeichnung, wenn man seine journalistische Arbeit macht.

Heute haben Sie mehr als sieben Millionen Follower in den sozialen Netzwerken, Sie haben Frauen in Iran dazu animiert, für ihre Rechte zu protestieren, einige von ihnen wurden verhaftet. Wie gehen Sie mit dieser Verantwortung um?

Ich musste eine Entscheidung treffen: in Iran leben und Selbstzensur üben oder mein Land verlassen und laut werden. Mit den sozialen Netzwerken habe ich ein viel grösseres Publikum als mit der Zeitung, für die ich gearbeitet habe. Das gibt mir die Macht, das Regime herauszufordern. Ich fühlte mich sehr schuldig, als sie eine Frau verhafteten, die erst zwanzig Jahre alt ist. Aber wissen Sie, was passiert ist? Die Mutter der jungen Frau nahm ihr Kopftuch in der Öffentlichkeit ab und sagte: «Ich bin die Stimme meiner Tochter.» Das ist grossartig, und es gibt noch mehr Geschichten wie diese. Das sind die wahren Rosa Parks von Iran.

Sind Sie optimistisch, dass Sie eines Tages in Ihr Land zurückkehren können?

Ich habe alles in meinem Leben verloren, meine Familie, mein geliebtes Land. Aber ich habe die Hoffnung nicht verloren. Ich glaube fest daran, dass die Regierung nicht gegen all diese mutigen Frauen gewinnen kann. Ich weiss, dass eines Tages eine Frau Präsidentin in Iran sein wird. Vielleicht lebe ich dann nicht mehr, aber solange ich noch lebe, habe ich die Wahl: mich unglücklich zu fühlen oder meine Unterdrücker dazu zu bringen, sich unglücklich zu fühlen. Ich wähle das Zweite.

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