«Was ist die maghrebinische Kultur?», fragte einst der algerische Philosoph Mohammed Arkoun, einer der «wichtigsten modernen islamischen Denker» seiner Zeit, wie die «Oxford Encyclopedia of the Modern Islamic World» ihn 1995 nannte. Zweifellos, so betonte er, sei sie ein Mosaik aus berberischen, griechisch-römischen, arabischen, islamischen und französischen Einflüssen. Dieses Kulturverständnis sollte es den Maghrebinern ermöglichen, alte Feindseligkeiten zu überwinden und eine Brücke zum Anderen in seiner Vielfalt zu finden.

Mohammed Arkoun wandte sich mit dieser Definition des Kulturverständnisses gegen alle, die Kulturen als homogene Einheiten betrachteten. Besonders im Auge hatte er islamische Moralapostel, die jeglichen Einfluss der sogenannt westlichen Kultur ablehnten oder gar zu tilgen versuchten. Ihre erklärten Feindbilder – damals wie heute – sind Religionsfreiheit, LGBT-Rechte, Minijupe oder das freie, unbedeckte Haar der Frauen. Denn all das ist in ihren Augen Ausdruck des westlichen Imperialismus, der bekämpft werden muss.

Ablehnung der Menschenrechte

Der Diskurs dieser Islamisten erinnert an das Argumentarium derjenigen westlichen Aktivistinnen und Aktivisten, die gegen die sogenannte kulturelle Aneignung kämpfen. Dies etwa, wie kürzlich in Zürich und Bern geschehen, indem sie weisse Musiker boykottieren, die Dreadlocks tragen. Den Musikern wurde vorgeworfen, sie hätten sich das kulturelle Symbol einer unterdrückten Kultur angeeignet und damit das Machtgefälle zwischen der Kultur der Kolonisatoren und der Kolonisierten zementiert.

Gleicherweise, wenn auch mit anderer Absicht, rechtfertigen Islamisten ihre Ablehnung der universellen Menschenrechte. Sie behaupten, dass gläubige Musliminnen und Muslime die kulturelle Hegemonie des unterdrückerischen Westens zurückweisen. Wer das Verhüllungsgebot für Frauen durchsetzt und die LGBTQ-Bewegung unterdrückt, kämpft in dieser Logik gegen die kulturelle Hegemonie des Westens und für die Entkolonialisierung der eigenen Kultur. Diese Abneigung gegen die Moderne findet sich nicht nur bei Islamisten und postmodernen Linken, sondern auch bei Vordenkern der Neuen Rechten wie Alain de Benoist und Alexander Dugin.

Damit ist auch zu erklären, weshalb es während der Debatte um das Burkaverbot in der Schweiz seltsame Allianzen gab. So mussten sich liberale muslimische Frauen, die für das Burkaverbot eintraten, von angeblich liberalen Aktivistinnen der Operation Libero vorwerfen lassen, sie hielten die weisse Mittelklassefrau für das Mass aller Dinge in Sachen Freiheit. Mit denselben «Argumenten» gehen Islamisten in Istanbul oder Rabat gegen Feministinnen vor: Ihr eignet euch die Kultur des Westens an, entkolonialisiert euch!

Diese an Hysterie grenzenden Debatten gegen Akkulturation, wie sie im Fall der Dreadlocks geführt werden, offenbaren nicht nur die ideologischen Parallelen zwischen islamistischem, postmodernem linkem und neurechtem Gedankengut. Sie erinnern auch an die alten Zeiten der Kolonialherrschaft. Denn diese basierte auf der kulturellen Trennung der Völker – und auf verlogenen orientalistischen Märchen.

Rassistische Segregation

In seinem Buch «Asad: The Struggle for the Middle East» erzählt der britische Historiker Patrick Seale eine erstaunliche Geschichte: Nachdem der syrische Intellektuelle und Mitbegründer der Baath-Partei al-Arsuzi von seinem Philosophiestudium an der Sorbonne heimkehrte, begab er sich wieder an sein altes Gymnasium, diesmal jedoch als Lehrer. Al-Arsuzi war trotz seiner Opposition gegen den Kolonialismus äusserst beeindruckt von der Philosophie und dem politischen Denken in Europa. Daher hielt er es für notwendig, seine Schüler über die emanzipatorischen Ideen der Französischen Revolution aufzuklären.

Doch als die französischen Kolonialbehörden davon erfuhren, nahmen sie Arsuzi fest. Sie holten ihn aus dem Klassenzimmer und teilten ihm mit, dass die Ideen der Menschenrechte, der Freiheit und der Revolution nichts für Araber seien. Seine Aufgabe als Lehrer bestünde nicht darin, französische Werte zu verbreiten, sondern einzig, französischen Interessen zu dienen. Hinter dieser rassistischen Segregation stand eine orientalistische Theologie, die davon ausging, dass sich die nichtwestlichen Völker ontologisch und kulturell von der westlichen Zivilisation unterscheiden und daher nicht für die Freiheit tauglich seien.

Die Fratze dieses kolonialen Projekts, das auf der Trennung zwischen Ost und West und der Betonung fundamentaler kultureller Unterschiede basiert, zeigt sich heute wieder – und sie geniesst ausgerechnet in vermeintlich progressiven Kreisen grosse Popularität. Sie verbirgt sich hinter modischen Begriffen wie «dekolonisieren». Wer sie verwendet, um gegen Dreadlocks und Minijupes zu polemisieren, masst sich das Recht an, zu bestimmen, was zu einer Kultur gehört und was nicht.

Dies führt zu einer essenzialistischen und deterministischen Deutung von Kultur. Denn wo finden wir reine, saubere Kulturen, in denen das Eigene vom Fremden scharf unterschieden werden kann? Vielleicht nur in der Vorstellung einiger Illusionisten, die für rassische und kulturelle Überlegenheit eintreten. Dabei ist das, was Islamisten und andere Eiferer für authentische Kultur halten, zum Teil selbst ein Produkt des Kolonialismus: Die Kolonialherren waren nicht primär daran interessiert, ihre Wertvorstellungen in die Welt zu exportieren. Vielmehr ging es ihnen um den Erhalt konservativer traditioneller Strukturen, die der Sicherung der eigenen Macht dienten.

Der französische marxistische Historiker Maxime Rodinson hat in seinem Buch «Die Faszination des Islams» gezeigt, wie der Westen in seinem Umgang mit der islamischen Welt versuchte, den modernistischen Intellektuellen blinde Nachahmung Europas und kulturelle Aneignung zu unterstellen. Oft waren es die nichttraditionellen Intellektuellen, die von den Kolonisatoren mit Argwohn beäugt wurden, wie der syrische Autor Sami Alkayial einmal feststellte: «Sie galten als europäische Intellektuelle, die korrupte Prinzipien vertreten, die zur Destabilisierung des konservativen kolonialen Projekts führen könnten.»

Verteidigung des Universalismus

Sami Alkayial bezieht sich auf die Erfahrungen von Lord Frederick Lugard, einem Kolonialbeamten, der Hongkong und Nigeria regierte und als der wichtigste Theoretiker des britischen Kolonialismus gilt. Lord Lugard betrachtete all jene Untertanen mit Misstrauen, die an westlichen Universitäten oder nationalen Schulen studiert hatten. Dies, weil sie nicht zum Regieren geeignet und nicht dazu qualifiziert seien, dem Kolonialismus zu dienen.

Er schloss daher ein Bündnis mit konservativen religiösen Kräften. Um ihr Vertrauen zu sichern, unterstützte er die Einführung der Scharia, und zwar nicht nur für die muslimische, sondern auch für die christliche Bevölkerung in Nordnigeria. Lord Lugard war in gewissem Sinne ein Schöpfer von «Authentizität», also von dem, was viele Muslime heute als Tradition betrachten. Was heute als authentische Kultur erachtet wird, ist damit oft nur eine Reproduktion einer phantasierten Vergangenheit.

Zurück zu dem algerischen Philosophen Mohammed Arkoun. Seine Betonung der vielfältigen Einflüsse der Kultur und seine Verteidigung des Universalismus waren keine intellektuelle Zierde, sondern eine Konsequenz aus eigenen Erfahrungen. Arkoun wusste, wie Demagogen mit ihrer Manie, kulturelle Grenzen festzulegen, Greueltaten provozieren können. Wenn Arkoun heute noch leben würde, würde er wohl nicht nur Minijupe-Trägerinnen in Algier unterstützen. Sondern auch weisse Musiker mit Rastafrisuren in Zürich.

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