Ein Reisebericht aus einem kaum bekannten, aber umso faszinierenderen Staat in Zentralasien.

Ich konnte nicht glauben, dass ich in einem muslimischen Land bin. Es war Mittagszeit im Ramadan in einem schönen Restaurant in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. Auf meinem iPhone erhalte ich eine Meldung: «Verhaftung eines marokkanischen Mannes, weil er beim Rauchen einer Zigarette in der Öffentlichkeit erwischt wurde.» In den meisten islamischen Ländern gibt es Gesetze, die das Trinken eines Gläschens Wasser oder das Rauchen einer Zigarette in der Öffentlichkeit während der Fastenzeit kriminalisieren. Es ist eine Strafe für den fehlenden Respekt gegenüber den Gefühlen der Fastenden.

Die Restaurantbesucher, die mit mir in diesem gemütlichen Restaurant sassen, waren keine Touristen, sondern Usbeken. Sie waren Muslime, die voller Genuss ihr Essen speisten, ohne Angst vor der Polizei oder den tadelnden Blicken der Hüter der Moral, der Islamisten, zu haben. Hätten sie nicht ihre Hände zum Himmel gestreckt und Allah flüsternd um Segen gebeten, als sie das Restaurant verlassen wollten, hätte ich gedacht, sie seien keine Muslime.

Casablanca ist ein konservatives Nest

Für die meisten Muslime gilt der Ramadan als die heiligste und wichtigste Pflicht. Gewöhnlich kann ein Muslim auf das Gebet und andere religiöse Pflichten verzichten, allerdings kann er nicht verlauten lassen, dass er das Fasten nicht praktiziert. Kaum ein muslimisches Land toleriert dies, denn wer beim Essen oder beim Rauchen einer Zigarette in der Öffentlichkeit erwischt wird, dem droht eine Gefängnisstrafe.

Einen Monat verbrachte ich in Usbekistan, einem Land, das der islamischen Welt viele bedeutende Denker schenkte wie den Gelehrten und Hadith-Sammler Imam Al-Bukhari, den Theologen Abu Mansur Al-Maturidi oder den grossen Philosophen Ibn Sina. In ebendiesem kulturell reichen islamischen Land fällt eines auf: Kopftüchern und Nikabs, die in bestimmten Teilen europäischer Städte das Strassenbild prägen, begegnet man kaum. Die Paranja (Vollverschleierung) sieht man bestenfalls in Museen oder auf Instagram, wo konservative Imame nicht verhüllten Frauen mit ewigem Höllenfeuer drohen.

Selbst Marokko, das von vielen im Westen als liberales muslimisches Land angesehen wird, ist im Vergleich zu Usbekistan recht konservativ. Denn während die Bars in Casablanca und Rabat wegen des Ramadan geschlossen waren, wünschten Kneipenschilder in Taschkent den Usbeken einen gesegneten Ramadan – und sie wiesen die Kunden auf die Trinkzeiten im heiligen Monat hin, die zwischen Mittag und Morgengrauen gelten.

Durch die Strassen Kairos zu flanieren und eine unverschleierte Frau zu suchen, ist heute genauso schwierig wie eine verhüllte Frau in der Stadt des Islam, Buchara, zu finden. Das, was ich in Usbekistan erlebt habe, gehört für meine Generation der Vergangenheit an. Wir kennen es nur von Bildern, die wir auf Facebook mit Kommentaren voller nostalgischer Beklemmung posten, eine gestohlene schöne Zeit, bevor die Schleier und Nikabs die Strassen Kairos, Kabuls und vieler anderer Städte einnahmen.

«Sie sind nicht religiös? Macht nichts, herzlich willkommen. Setzen Sie sich zu uns und lassen Sie uns miteinander in Ruhe diskutieren.» So wurde ich von den Studenten in der Kokildash Madrasa in Taschkent empfangen, einem prächtigen Gebäude, das auf das fünfzehnte Jahrhundert zurückgeht. Heute werden dort usbekische Imame ausgebildet.

Es wird ein Gespräch über Glauben und Gott geführt, über Ibn Sina und seinen logischen Beweis für die Existenz Gottes. Die Studenten zitieren den rationalen Philosophen Ibn Sina und seine philosophischen Argumente über die «Notwendigkeit des Seins», um einen Atheisten von der Existenz Gottes zu überzeugen. Am Ende unserer intellektuellen Diskussion sagt ein Student zu mir: «Du brauchst nicht an Allah zu glauben, du bist doch ein Bruder in der islamischen Kultur, und das reicht vollkommen in Usbekistan.»

Als ich gehen will, kommt einer der Studenten mit mir heraus und wartet mit mir auf das Taxi. Er steckt seine Hand in seine Hosentasche und fragt mich, ob ich Sum (usbekische Währung) für die Fahrt brauche. Ich bedanke mich herzlich für diese Frage, da komme ich mir wie ein Reisender oder ein mittelalterlicher Kaufmann vor, der bei den Bewohnern des Landes jenseits des Flusses zu Gast war. Wir tauschen Nummern aus, und seither schreibt der muslimische Bruder immer wieder seinem atheistischen «Bruder in der Kultur», um zu fragen, wie es ihm auf seiner Reise gehe.

Wein ist Allah

 

Im Mausoleum von Maulana Baha al-Din al-Naqshbandi in der Nähe von Buchara hatte ich die Ehre, Gast des Imams von Buchara, Scheich Abd al-Ghafoor Razzuq al-Bukhari, zu sein, der mich zum Teetrinken einlud und sich sehr dafür interessierte, über den Maghreb und seine frommen Sufi-Heiligen zu sprechen.

Dann zeigte er mir seine Sammlung arabischer Kalligrafie, die er vierzig Jahre lang gepflegt hatte. Beim Durchblättern der Sammlung fiel mir auf, dass die Texte nicht nur Koranverse und Hadithe des Propheten Mohammed enthielten, sondern auch Gedichte in persischer Sprache von dem Dichter Hafez al-Shirazi und dem Dichter Omar Khayyam.

Gedichte, die von Wein, freier Liebe und Jungfrauen singen, wobei daneben Koranverse waren, die Gott preisen. Ich fragte den Imam, warum viele islamische Scheichs die Poesie nicht mögen, besonders wenn die Poeten von Frauen und Wein dichten. «Diese Imame verstehen die Poesie nicht», antwortete er lächelnd. Dann begann er mir die Metaphern in den Gedichten zu erklären:

Der Becher symbolisiert das Herz.

Der Wein symbolisiert Allah.

Der Kuss auf den Mund einer Jungfrau steht für Reinheit und Gelassenheit.

«Füllt mein Glas Wein» heisst nichts anderes als «Füllt mein Herz mit Allah».

Der tolerante Islam, den ich in Usbekistan erlebt habe, ist bezeichnenderweise nicht in einem freiheitlichen Kontext entstanden. Er konnte sich in einer Ära der Zensur, der Unterdrückung und der Verfolgung entfalten. Der ehemalige Präsident Islam Karimow regierte den Staat mit eiserner Hand. In den ersten Jahren seiner Herrschaft nach dem Zerfall Sowjetunion bemühte er sich zunächst, einige religiöse Freiheiten zu gewähren. Von dieser Politik der Offenheit rückte er jedoch ab, als jihadistische Bewegungen wie Hizb ut-Tahrir aufkamen.

Karimow, der fast dreissig Jahre lang regierte, arbeitete daran, ein staatlich verordnetes Islamverständnis nach sowjetischer Manier durchzusetzen. Alle anderen Strömungen, die sich der Staatsideologie widersetzten, wurden brutal niedergeschlagen. Der Geheimdienst überwachte Moscheen, bärtige junge Männer wurden willkürlich auf Polizeiposten gebracht, wo man ihnen die Bärte rasierte. Moscheen durften nicht über Lautsprecher zum Gebet aufrufen, und der Schleier wurde nicht nur in Schulen und Universitäten, sondern auch im öffentlichen Raum verboten.

Shawkat Mirziyoyew, der nach Karimows Tod im Jahr 2016 zum Präsidenten gewählt wurde, brach mit dem Erbe seines Vorgängers und leitete Reformen ein. Sie zielten darauf ab, Usbekistan für ausländische Investitionen zu öffnen. Mirziyoyew erklärte seine Unterstützung für die freie Meinungsäusserung und die Etablierung zivilgesellschaftlicher Organisationen sowie oppositioneller Parteien. Auf religiöser Ebene erlaubte er den Schleier in öffentlichen und staatlichen Einrichtungen, liess eine Reihe islamistischer Inhaftierter frei, und die jahrzehntelang stummen Minarette der Moscheen durften endlich zum Gebet rufen.

Diese neue Offenheit gegenüber der Religion stellte den neuen Präsidenten jedoch vor die Herausforderung, ein Gleichgewicht zwischen der Religionsfreiheit und dem Schutz der Gesellschaft vor extremistischen Auslegungen der Religion zu halten. Denn in den letzten vier Jahren sind in Usbekistan religiöse Stimmen aufgetaucht – unter ihnen staatsnahe Imame und religiöse Blogger –, die zum Hass gegen Homosexuelle, Atheisten und Feministinnen aufrufen. Einige forderten gar eine Verschleierungspflicht für Frauen und die Abschaffung von nicht islamischen Feiertagen wie Nowruz.

Selbst Imame, die tolerante Interpretationen der Religion fördern, werden des Atheismus bezichtigt. So veröffentlichte der prominente ehemalige Imam und religiöse Blogger Abror Mukhtor Ali, der derzeit am Zentrum für islamische Zivilisation in Taschkent arbeitet, ein Video auf Youtube. In diesem prangert er mehrere Imame, die mit seinem konservativen Religionsverständnis nicht einverstanden sind, als «heimliche Atheisten» an.

Nur wenige Wochen vor meiner Ankunft in Usbekistan, Ende März, versammelten sich etwa hundert Menschen in Taschkent zu einer gewalttätigen Demonstration gegen LGBT-Rechte. Teilnehmer des Mobs marschierten in Richtung des Hauptplatzes der Stadt, nachdem sie gehört hatten, dass Schwule für ihre Rechte protestierten. Der Mob, der «Allahu Akbar» skandierte, hatte mindestens zwei Teenager brutal zusammengeschlagen. In der Ära von Islam Karimow wäre ein solches Szenario nicht denkbar gewesen.

Behördennahe Journalisten veröffentlichten Artikel, in denen sie LGBT-Aktivisten beschuldigten, die Gesellschaft zu provozieren und ihre Werte zu missachten. Tage nach der Demonstration schrieb Komil Allamjonow, ein ehemaliger Regierungsbeamter, der dem derzeitigen Präsidenten Shawkat Mirziyoyew nahesteht, auf Twitter: «In unserem Land, in dem die Mehrheit der Menschen Muslime sind, toleriert die Gesellschaft keine abnormalen Männer und Frauen (LGBT)! Unsere heilige Religion, der Islam, erlaubt dies nicht.»

Politisches Manöver?

Ob in Taschkent, Ferjana, Samarkand, Buchara oder Chiwa – überall konnte ich während des Monats, den ich in Usbekistan verbrachte, einige Atheisten und feministische Aktivistinnen treffen, die wie andere Usbeken auf echte politische Reformen hofften. Aber in den letzten vier Jahren mussten sie vor allem beobachten, dass sich die Gesellschaft einem konservativeren Islam öffnet, während die politische Freiheit weiterhin unterdrückt wird. Sie hoffen, dass dies nur ein politisches Manöver des jetzigen Präsidenten sei, um seine Wiederwahl im Oktober dieses Jahres zu sichern.

«Wenn ich zwischen politischer Unterdrückung oder der Islamisierung der Gesellschaft wählen müsste, würde ich die Unterdrückung wählen», sagte mir eine junge Feministin in Buchara. «Wenigstens waren wir unter Islam Karimow vor solchen Imamen geschützt, die jetzt fordern, dass wir unter dem Schleier verschwinden sollen.»

Für westliche Ohren mag diese Aussage seltsam klingen, aber für die junge Frau bedeutet ein islamisches Regime nicht nur das Ende der politischen Freiheit, sondern auch eine drakonische Kontrolle der intimsten Aspekte des individuellen Lebens – von Essens- und Trinkvorschriften bis zur Frage, mit wem man das Schlafzimmer teilen darf.

Viele Frauen sind aufgrund des konservativen religiösen Diskurses sehr besorgt. Setora, eine Geschäftsfrau aus Samarkand, erinnerte mich daran, dass die heutigen Freiheiten nicht selbstverständlich sind: «Meine Mutter hat in den 1920er Jahren mit ihren Genossinnen an öffentlichen Verbrennungen der Paranja teilgenommen. Als sie ohne Vollverschleierung nach Hause liefen, wurden sie von den Männern mit Steinen beworfen, einige von ihnen starben.»

Der Islam, der mich so herzlich aufgenommen hat, der mich nicht als Abtrünnigen ansieht, sondern als einen Bruder in der «islamischen Kultur»: Er ist leider nicht in Freiheit entstanden, sondern unter der Ägide eines autokratischen Präsidenten. Es ist der Islam von Islam Karimow.

Eine Frage ruft deshalb nach Klärung: Ist der moderne gemässigte liberale Islam, oder wie auch immer man ihn nennen mag, nur unter der Herrschaft eines aufgeklärten Despoten beziehungsweise eines autokratischen Präsidenten zu realisieren? Warum mussten die Frauen in Saudiarabien jahrzehntelang warten, bis ein Kronprinz, der nicht davor zurückschreckt, seine politischen Gegner auszuschalten, es ihnen erlaubt, Auto zu fahren?

Diese Frage hat die islamische Welt seit je begleitet, denn viele Momente der Toleranz in der islamischen Geschichte wären ohne den politischen Willen eines Kalifen oder Fürsten nicht zustande gekommen. Diese Herrscher haben sich die religiöse und politische Autorität inkorporiert und willkürlich ihr Religionsverständnis durchgesetzt, gegen die Elite der konservativen Rechtsgelehrten. Die Usbeken wird auch diese Frage noch lange Zeit begleiten.

Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen

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