Abdallah Laroui, einer der führenden Philosophen Marokkos, meiner alten Heimat, schrieb einmal: «Europa ist das Museum der Welt.» Er hat recht, und dies umso mehr, als er diesen Satz anerkennend notiert. Europa bewahrt einen Teil der Erinnerung der Menschheit und ihrer Geschichte auf. Dazu zählen Kunstwerke, aber auch Institutionen wie die Menschenrechte. Beides steht in der Kritik: Viele Länder fordern, dass Europa einen Teil der Kunstwerke aus Afrika oder Asien an die Ursprungsländer zurückgibt. Zugleich wird, wieder einmal, die Forderung laut, Europa solle den Universalismus der Menschenrechte relativieren. Haben die, die sie stellen, diese Forderung wirklich bedacht?
Ich frage mich: Hätte Ibn Ruschd (Averroes) wirklich gewollt, dass die Handschriften seiner Werke und deren lateinische Übersetzungen an seine arabische Leserschaft restituiert werden, nachdem Muslime in Marokko seine Bücher verbrannt und ihn ins spanische Exil geschickt hatten? Vor allem: Seit damals hat sich nicht viel geändert. Noch immer werden «Averroesianer» in der muslimischen Welt verfolgt – weil sie sich in ihrem Denken an einem kritischen Rationalismus orientieren. Im Angesicht von Gewalt und Krieg suchen sie nun nicht nur einen Teil ihrer Geschichte in den Museen Europas, sondern wagen direkt die Flucht in den Westen.
Traum ade
Sie sehen Europa als Ort, an dem ihre Ideale gelebt werden. Allerdings hat jeder, der aus der sogenannten islamischen Welt Europa entgegenstrebt, eine eigene Vorstellung dieses Traums. Die einen wollen ihre wirtschaftliche Situation verbessern; andere fliehen vor Terror, Krieg und Zerstörung; wiederum andere hängen abstrusen Vorstellungen von einem Kalifat an und möchten Andalusien erneut auf die islamische Weltkarte setzen. Manch einer träumt von Europa als perfekter Verkörperung der Freiheit, fernab des «orientalischen Despotismus» (Bassam Tibi).
Dieser europäische Traum löst sich jedoch für manchen Neuankömmling schnell in Luft auf, wenn er plötzlich seine Sprachlehrerin sagen hört, alle Menschen verfügten über die gleiche Würde: Christen, Juden und Muslime, Frauen, Männer und Homosexuelle. Oder wenn er einen Sozialarbeiter das Loblied auf die Integration anstimmen hört. Oder wenn er unfreiwillig den Stimmen von Politikern lauscht, deren Meinungen über Integration so weit auseinandergehen, wie ihre ideologischen Brillen unterschiedlich sind.
Eines steht jedoch fest: Die Forderung nach Integration wird von vielen Neuankömmlingen aus der muslimischen Welt als Anschuldigung verstanden – sie sehen sich in ihrer Auffassung bestätigt, es gehe nur darum, einen aus europäischer Sicht störenden kulturellen Unterschied auszumerzen. Sie verstehen Integration als Aufforderung zum Verrat an der eigenen Religion. Als Akt des Widerrufs der eigenen Identität und Kultur, oder gar als Verbrechen – ganz nach der Parole Recep Tayyip Erdogans: «Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.»
Schon integriert
Allerdings bestehen gewichtige Missverständnisse auch auf der anderen Seite. Es ist falsch, zu glauben, jeder, der aus der islamischen Welt nach Europa komme, bedürfe zwangsläufig der Integration. Es gibt Menschen, die nicht nur schon integriert ankommen, sondern sogar aufgeklärte Europäer im Geiste sind. Sie betrachten den Westen als historische Verkörperung des Grundgedankens der Moderne, der Freiheit und der Menschenrechte. Dies macht Europa zu einem Teil ihrer persönlichen Identität – über geografische, sprachliche und ethnische Barrieren hinaus.
Ensaf Haidar, die Frau des saudiarabischen Schriftstellers und politischen Gefangenen Raif Badawi, zählt zu denjenigen, die längst angekommen waren, bevor sie physisch ankamen. Als Raif wegen Beleidigung des Islams und der Einrichtung eines liberalen Internetforums verhaftet und zu zehn Jahren Gefängnis und tausend Peitschenhieben verurteilt wurde, sah sich Ensaf gezwungen, Saudiarabien mit ihren drei Kindern als Flüchtling Richtung Kanada zu verlassen. Ich kenne die mutige Frau. Und ich fragte sie nach ihrem neuen Leben in der kanadischen Gesellschaft. Ihre Antwort, so klar wie aufrichtig: «Ich brauchte keine Integration. Ich kam bereits voll integriert an.»
Dass Ensaf bereits als Europäerin im Geiste nach Kanada kam, sollte niemanden verwundern. Sie betrachtete die westlichen Werte nie als Gefahr für ihre Familie oder ihre Religion. Sie hat sich immer gewünscht, dass ihre Kinder frei leben können. Nie hat sie zu jenen muslimischen Müttern gezählt, die ihre Töchter zwingen, das Kopftuch zu tragen, oder Probleme damit haben, wenn diese einen männlichen Schulkollegen zu sich einladen.
Obgleich Ensaf in einer konservativen Gesellschaft aufwuchs, konnte sie diesen bitteren inneren Konflikt zwischen dem Alten und dem Modernen, dem Tribalismus und dem Universellen, erfolgreich bewältigen. Sie traf die Entscheidung, Weltbürgerin zu sein, und liess sich nicht auf ihre religiöse, ethnische oder geografische Zugehörigkeit reduzieren – trotz der Tatsache, dass dies Drohungen und soziale Sanktionen seitens ihrer Familie bedeutete. Kurzum: Diejenigen, die bereits integriert nach Europa kommen, haben schon in ihrem geografischen Heimatland die Entscheidung getroffen, Demokraten statt Despotenanhänger, Säkularisten statt Theokraten zu sein.
Universelle Gültigkeit
Für Menschen wie diese bezeichnen die Worte Ost und West nicht geografische Bereiche, sondern zwei Denkweisen, die sämtliche geografischen und kulturellen Grenzen überschreiten. Es gibt Jihadisten in Europa, die vom islamischen Kalifat träumen, genauso wie junge Männer und Frauen in Saudiarabien und Pakistan, die in die Fussstapfen von Averroes, Kant und Voltaire treten und die Fackel der Aufklärung vor sich hertragen. Der Westen ist nicht nur im Westen, und Europäer sind nicht nur die, die in Europa geboren sind.
Raif Badawi und seine Freunde in Saudiarabien erinnern uns daran, dass Menschenrechte universal gelten und Europa all jenen gehört, die sich den Werten der Aufklärung verpflichtet fühlen. Ohne Raif Badawi und seine Kameraden in der muslimischen Welt, die sich der Theokratie und der Tyrannei des Islams entgegenstellen, ohne die Sklaven Haitis, die bei ihrem Kampf gegen die Franzosen das Lied der Französischen Revolution anstimmten und ihre Unterdrücker damit daran erinnerten, dass sie in ihrem Grössenwahn die eigenen Werte verrieten – ohne sie wäre die Aufklärung nur ein historisches Ereignis geblieben, reserviert für eine bestimmte ethnische Gruppe und beschränkt auf das Terroir seiner Entstehung. Erst jene wahren Freunde der Aufklärung, die nicht aus Europa stammen, geben deren Werten eine universale Legitimität.
Integration ist schwierig. Der einzelne Mensch muss sich aus den Fesseln vererbter und erworbener Zugehörigkeiten befreien. Integration erfordert, dass man für sich selbst sorgt und für sich selbst denkt. Integration kann scheitern. Und das tut sie auch immer wieder.
Doch die Antwort darauf sollte nicht in noch mehr Integrationsprogrammen und noch mehr Investitionen in die Integration bestehen. Einwanderer oder Flüchtlinge, die die Werte des Liberalismus und des Säkularismus ablehnen, tun dies nicht, weil sei diese nicht kennen würden. Im Gegenteil: Sie wissen genau, was Liberalismus und Säkularismus sind – und lehnen diese Werte bewusst ab, weil sie sie als Antithese zu ihrem Glauben verstehen. Diese Ablehnung kann selbst der beste Integrationskurs nicht aufheben.
Integration: eine Entscheidung
Wer die westlichen Werte und die westliche Lebensweise ablehnt, wird nie akzeptieren, dass Männer und Frauen gleichgestellt sind; dass die Wahl der Religion oder gar der Entscheid, sich zu keiner Religion zu bekennen, Menschenrechte sind; dass Kunst durch die Redefreiheit geschützt ist und dass dieses Prinzip sogar dann verteidigt werden muss, wenn es um die Darstellung des Propheten geht.
Integration ist eine individuelle Entscheidung, die an ein Verantwortungsgefühl für die Aufnahmegesellschaft gekoppelt ist. Der Flüchtling ist an erster Stelle selber für den Erfolg oder Misserfolg seiner Integration verantwortlich. Programme, die Migranten beim Erlernen der Sprache oder beim Finden eines Berufs unterstützen, sind wichtig, allerdings ist die sprachliche und berufliche Integration nicht das einzige Indiz für den persönlichen Integrationserfolg.
Sprachkenntnisse und finanzielle Unabhängigkeit sind zwar zwingende Voraussetzung für eine gelingende Integration, doch umfasst der Integrationsprozess weit mehr. Sonst wäre Mohammed Atta, einer der Terroristen des 11. Septembers, der in Deutschland studierte, ein Beispiel für gelungene Integration.
Vor allem: Wer Neuankömmlinge zur Integration auffordert, will damit nicht kulturelle Unterschiede verleugnen. Die Aufforderung ist vielmehr eine Einladung, Citoyen zu sein, Europäer zu sein, Universalist zu sein. Die Citoyenneté ist das Sicherheitsventil gegen die Vertreter der Identitätspolitik, die versuchen, den Staat zum Eigentum einer bestimmten Religion, Rasse oder Klasse zu machen. Staatsbürger zu sein, bedeutet, Demokrat zu sein, die Freiheit seiner Tochter zu respektieren und die Redefreiheit anzuerkennen, auch wenn über das Allerheiligste gelacht wird.
Wer nicht bereit ist, diese Werte anzunehmen und zu verteidigen; wer von den Vorzügen der Moderne profitieren möchte, aber die Moderne ablehnt, wenn es um persönliche Freiheit und Liberalismus geht; wer das Hohelied der Identitätspolitik anstimmt, wonach die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Kollektiv sein Verhalten bestimmt, nun, der sollte konsequenterweise sein Exil ausserhalb Europas suchen.
Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen.