In der westlichen Welt ist das Tragen des Kopftuchs optional – schliesslich kann bzw. sollte niemand jemandem vorschreiben, was er zu tragen hat und was nicht. Die Solidarität mit Frauen, die aufgrund ihres Kopftuchs diskriminiert werden könnten, und die Akzeptanz ihrer Wahl machen das Kopftuch aber keineswegs zu einem Symbol der Freiheit.

Das Kopftuch ist für mehrere dutzend Millionen Frauen in der muslimischen Welt keine freie Wahl. Man schaue sich etwa die Situation der Frauen in Khomeinis Iran an, bei der Muslimbruderschaft in Ägypten, bei den Wahhabiten in Saudi-Arabien oder ganz generell in vielen anderen muslimischen Ländern. Was diese Länder unter anderem eint: Frauen werden verhaftet und diskriminiert, wenn sie kein Kopftuch oder Nikab tragen. Ein gutes Beispiel wäre die Geschichte der jungen Dame, die letzten Juli in Saudi-Arabien verhaftet wurde. Ihr Verbrechen: ein Video, dass sie in einem kurzen Rock zeigt.

Es steht ausser Frage, dass viele muslimische Frauen das Kopftuch freiwillig tragen – und zweifellos muss das Wahlrecht dieser Frauen respektiert werden. Wir müssen jedoch das Kind beim Namen nennen und einsehen, dass das Kopftuch ohne jeden Zweifel ein Werkzeug der Geschlechterungleichheit darstellt.

Kopftuch als freie Wahl?

In der ersten Folge der SRF-Dokumentation „Grüezi Schweiz die Einwanderer“ folgte das SRF dem Alltag und der Integration einer muslimischen Flüchtlingsfamilie aus Syrien. Der Journalist sprach mit der Mutter und ihren beiden jungen Töchtern über das Verbot des Nikabs im Kanton Tessin. Die Mutter gab an, schon immer ein Kopftuch getragen zu haben, und war der Meinung, jeder und jede solle das tragen dürfen, was er respektive sie wolle. Anschliessend fragte der Journalist die beiden jungen Töchter, Rawan und Razan, ob sie eines Tages das Kopftuch tragen würden. “Nein, ich mag es nicht. Ich werde es nie tragen”, antwortete Rawan mit einem Lächeln. Die Mutter unterbrach ihre Tochter sofort. Mit bestimmter Stimme gab sie ein “Später!” von sich. Das grosse Lächeln, das eben noch Rawans Gesicht zierte, war plötzlich verschwunden. Auch Razan war anderer Meinung als ihre Mutter. “Mit Sicherheit nicht”, sagte sie.

Diese Szene mit Razan, Rawan und ihrer Mutter erinnerte mich an die Worte meiner eigenen Mutter, als sie mich vor ein paar Jahren in Zürich besuchte: “Ich würde mich irgendwie nackt fühlen, wenn ich ohne mein Kopftuch nach draussen gehen würde.”–  “Aber es war immer noch deine Entscheidung, es zu tragen”, erwiderte ich. Sie lachte nur und sagte: “Eine Wahl hatte ich mit Sicherheit nicht.” Sie erzählte mir, wie sie sich immer noch sehr gut an jenen Tag erinnerte, als sie circa fünf oder sechs Jahre war und ihre Mutter mit einem Schal zu ihr kam und ihr Haar damit einwickelte. “Ab heute gehst du niemals wieder ohne Kopftuch aus dem Haus”, sagte meine Grossmutter zu ihr. Und von diesem Tag an ging meine Mutter niemals wieder ohne Kopftuch nach draussen – bis heute, 45 Jahre später.

Kopftuch als Gradmesser der Abwesenheit von Freiheit!

Es gibt viele Nichtregierungsorganisationen und Politiker in Europa, die angeblich für Verschiedenheit und Multikulturalismus einstehen und gegen die vermeintliche Islamfeindlichkeit des Westens kämpfen. Das hört sich alles schön und gut an, aber dennoch bin ich der Meinung, dass ein grosser Fehler begangen wird, wenn sie das Kopftuch zum Symbol der Freiheit erklären und dafür verwenden, muslimische Frauen und deren Rechte zu repräsentieren.

Der Zürcher Club “JASS:  just a simple scarf” etwa organisiert Veranstaltungen, zu denen er nicht-muslimische Frauen einlädt, damit diese “sehen können, wie sie mit Kopftuch aussehen”. Solche Initiativen unterstützen die Frauenrechte leider nicht. Tatsächlich machen sie gefährliche Werbung für einen kontroversen Dresscode, über dessen Geschichte und dessen Auswirkungen die Veranstalterinnen möglicherweise gar nichts wissen.

Generell gilt die Faustregel: Je öfter man das Kopftuch in der muslimischen Welt sieht, desto konservativer ist die Gesellschaft eingestellt – und desto mehr sollten wir uns um Extremismus und Terrorismus sorgen. Das Kopftuch, der Nikab und alle anderen Arten der Verschleierung stehen im Islam dafür, wie konservativ und anti-liberal eine Gesellschaft eingestellt ist. Im halb-säkularen Ägypten suchte man um 1950 oft vergeblich nach Kopftuchträgerinnen in den Strassen Kairos oder Alexandrias.

Das lag allerdings nicht an einem staatlichen Verbot oder an einer Einschränkung von Frauenrechten, sondern vielmehr an einem grossen Aufklärungskampf, der von verschiedenen arabischen Frauenrechtlerinnen angeführt wurde. Zu diesen gehörte zum Beispiel Huda Schaarwi, die Gründerin der Ägyptischen Feministenunion, die zusammen mit anderen Frauen 1923 auf den Tahrir-Platz ging und ihr Kopftuch öffentlich ablegte. Diese Feministinnen kämpften gegen jede Form der Geschlechterungleichheit, wozu auch das Kopftuch gehörte. Für sie stellte es das effektivste Diskriminierungswerkzeug des Patriarchats dar, um die Kontrolle über ihre Körper und ihre Freiheit zu erhalten.

Heute lacht niemand mehr über das Kopftuch

Der islamische Verhüllung ist nicht nur ein Symbol der Unterdrückung und Ungleichheit zwischen den Geschlechtern, sondern auch ein von Islamisten weltweit gezielt eingesetztes Instrument, um ihre fundamentalistische, ideologische und politische Agenda durchzusetzen. Verschleierte Frauen sind in diesem patriarchalischen Weltbild somit immer auch Ausdruck des islamistischen Einflusses auf die staatliche Macht und ihrer Kontrolle der politischen, sozialen und individuellen Freiheit.

Auf YouTube gibt es ein bekanntes Video des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser. Der Präsident hatte damals viele Lacher auf seiner Seite, als er verkündete, dass der oberste Führer der Muslimbruderschaft ihn darum gebeten hätte, allen ägyptischen Frauen vorzuschreiben, in den Strassen das Kopftuch zu tragen. Einst war ein solches Szenario lächerlich und unvorstellbar. Heute würde niemand mehr darüber lachen. Denn das Kopftuch und die islamische Verschleierung haben in den letzten 50 Jahren Ägypten erobert. 2007 schrieb die New York Times, dass 90% aller ägyptischen Frauen ein Kopftuch trügen.

Diese radikale Veränderung der letzten Jahre, von einer vergleichsweise offenen Gesellschaft hin zu einem verschleierten Ägypten, fand allerdings nicht über Nacht statt. Hierbei spielten mehrere Faktoren eine Rolle – der wichtigste war wohl der Aufstieg des politischen Islams in der muslimischen Welt. Die Salafisten wurden durch Saudi-Arabien unterstützt, indem Moscheen errichtet und die radikale Wahabi-Interpretation des Islams verbreitet wurde. Des Weiteren fand eine grosse Immigrationswelle von Ägypten nach Saudi-Arabien statt, und die konservativen Werte und die sozialen Veränderungen wurden von den ägyptischen Arbeitern mit nach Hause genommen.

Kopftuch als Symbol von Patriarchat und Unterdrückung

Die liberale schweizerisch-jemenitische Muslimin und Akademikerin Elham Manea schrieb einen brillanten Brief an die Organisatoren des Frauenmarsches in den USA, nachdem diese das Kopftuch als Symbol des Islams anpriesen und damit muslimische Frauen zu verteidigen suchten.

Manea im Wortlaut in der Huffington Post. “Warum wählt ihr ein Symbol – das für viele Frauen in den verschiedensten Teilen der Welt als Werkzeug der Unterdrückung steht – als ein Symbol für eine reiche und vielfältige Religion wie den Islam? Das ist nicht nur fehlgeleitet – es ist eine Beleidigung für all jene Frauen, die es tragen müssen und die psychologischen Narben dieses Zwangs erleiden.”

Machen wir uns nichts vor: Das Kopftuch ist ein Symbol von Patriarchat und Unterdrückung. Vom islamischen Standpunkt aus sagt es einer Frau, sie müsse sich selbst verschleiern, um nicht das sexuelle Verlangen der Männer zu wecken. Dieses Argument ist im Prinzip genau das gleiche, wie bei einer Vergewaltigung dem Opfer und nicht dem Täter die Schuld zu geben.

Selbstverständlich unterstützt nicht jede Kopftuchträgerin automatisch die Werte, die das Kopftuch in sich vereint. Millionen Frauen tragen es freiwillig und sehen es als kulturelles und religiöses Kleidungsstück, das zu ihrer Identität gehört. Doch auch hier handelt es sich um eine Wahl, die auf Argumenten basiert, die weder liberal sind noch die Prinzipien der Gleichheit vertreten.

Der islamische Schleier betrifft allerdings nicht nur die Frauen und ihre Körper, sondern auch die Männer. Ohne Männer wird kein Kopftuch getragen. Muslimische Frauen, die das Kopftuch oder einen anderen islamischen Schleier tragen, tun dies nur in Anwesenheit des anderen Geschlechts. Demzufolge stellt der islamische Schleier auch eine Verurteilung des Verlangens von Mann und Frau dar – es findet ein Krieg gegen den Körper und sein Verlangen statt. Und deshalb kann ich auch nicht verstehen, weshalb so viele westliche Feministinnen den islamischen Schleier in einem so romantischen Licht betrachten.

Kulturrelativistischer Feminismus: Verrat der Frauen

Wenn europäische Feministinnen das Kopftuch als Symbol für die Verteidigung muslimischer Frauen verwenden, schliessen sie nicht nur Millionen muslimische Frauen aus – sie verraten sie regelrecht. Diese Frauen kämpfen tagtäglich gegen die islamische Verschleierung und werden durch ihre Kritik und ihren Kampf gegen die Kopftuchpflicht in die anti-muslimische Ecke gedrängt. Das Kopftuch als Symbol der muslimischen Welt heranzuziehen, macht es den Liberalen in muslimischen Gesellschaften schwer, jene Islamisten und Regimes herauszufordern, die das Kopftuch in der Gesellschaft erzwingen und popularisieren.

Wir können immer noch gegen das Kopftuch sein, während wir gleichzeitig das Recht unterstützen, es tragen zu dürfen. Dabei müssen wir es nicht anpreisen oder popularisieren. Verteidigen sollen wir jene Frauen, die sich dazu entschieden haben, das Kopftuch zu tragen, nicht den Schleier selbst. Wer diesen als Symbol von Freiheit und Emanzipation versteht, ist naiv.

Eine verkürzte Version dieses Artikels wurde in dem NZZ-Feuilleton am 13.10.2017 veröffentlicht.

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