Wer in Kirchen nach Gläubigen sucht, wird enttäuscht: Kirchen sind heute so etwas wie Museen oder «Grabmäler Gottes», wie Nietzsche gesagt hat. In unserer postreligiösen Gesellschaft ist die Zahl der Touristen, die das Grossmünster besuchen, um ein Vielfaches höher, als die der Gläubigen, die sich Sonntag für Sonntag zum Gottesdienst einfinden.
Wer Gläubige sucht, findet sie nicht in Gotteshäusern. Aber es gibt sie. Und es sind nicht einmal so wenige. Man begegnet ihnen zum Beispiel in linksalternativen Cafés oder auf Biomärkten. Es sind säkulare Gläubige, bei denen sich, obgleich sie Religiosität demonstrativ ablehnen, ein zutiefst religiöses Denken findet – mitsamt den dazu passenden Verhaltensmustern.
Die Tyrannei der Schuld
Die meisten Ökologisten sind heute enger mit der Lehre von der Erbsünde verbunden als die Christen: «Was ist der Kohlenstoff-Fussabdruck, wenn nicht das gasförmige Äquivalent der Erbsünde, den wir Mutter Gaia zufügen?», fragt der französische Philosoph Pascal Bruckner. Die säkulare, tendenziell menschenfeindliche Askese, die in Teilen der Umweltbewegung kultiviert wird, oder das, was Bruckner auf Französisch «tyrannie de la pénitence» nennt, die «Tyrannei der Schuld» – sie wollen uns belehren, dass wir Menschen sündig seien, einfach deshalb, weil wir existieren. Und wir können der Sünde nicht entgehen. Jeder unserer Bewegungen, jedem Fortschritt haftet etwas Zerstörerisches an.
Bei der radikalen, antiimperialistischen und antiwestlichen Linken zeigt sich die Ideologie noch klarer als religiöser Glaube. Die Erbsünde wird hier auf den «Westen» oder den «weissen Mann» projiziert. Sie tragen die Verantwortung für das ganze menschliche Leid und alle Tragödien, die sich auf der Erde abspielen: für den Hunger in Afrika, die Kriege im Nahen Osten, die globale Erwärmung, den Tod von Asylbewerbern und Migranten im Mittelmeerraum. Der Westen ist in den Augen vieler dogmatischer Linker «der grosse Satan», wie der geistliche Führer des islamischen Gottesstaates in Iran, Ayatollah Khomeini, mit Blick auf die USA zu sagen pflegte.
Vergib mir, Genosse, ich habe gesündigt
Mancher säkulare Gläubige begibt sich deshalb metaphorisch in einen nicht heiligen Krieg, um die Erbsünde qua Geburt und privilegierter Herkunft zu sühnen. Um sich von der Schuld reinzuwaschen und schliesslich – so die durchaus religiös inspirierte Hoffnung – das Paradies auf Erden zu erreichen. Kennzeichen dieser Hoffnung ist allerdings nicht die christlich-jüdische Eschatologie oder die darauf aufruhende säkularisierte Hoffnung Adornos, «dass Leiden nicht sein, dass es anders werden solle», sondern eine schauderhafte Umwertung aller Werte: Menschenrechte sind keine universellen Rechte, die für alle Menschen gleichermassen gelten, sondern nichts anderes als ein Mittel des Westens, um imperialistische Ambitionen durchzusetzen. Und Verteidiger der Universalität der Menschenrechte in den Gesellschaften der Dritten Welt sind keine mutige Verbündete, sondern «Verräter, die ihre Kultur hassen».
Die Leugnung der Universalität der Menschenrechte ebnet den Weg zur Tyrannei und Unfreiheit. Das mag bei den Angehörigen dieser Religion, um es mit Ayaan Hirsi Ali zu sagen, «mit den besten Absichten» geschehen, «aber wie bekannt ist der Weg zur Hölle mit guten Absichten gepflastert». Mit anderen Worten: Die Selbstgeisselung dieser Leute auf der Grundlage eines permanenten Schuldgefühls qua Geburt resultiert in einer Ablehnung nicht nur des Westens, sondern auch der Universalität der Menschenrechte.
So ist es keine Überraschung, dass im Lager des antiwestlichen Bündnisses, in Grossbritannien angeführt von der Labour-Partei und deren Vorsitzenden Jeremy Corbyn, Verbündete wie Nicolás Maduro zu finden sind, seines Zeichens Diktator von Venezuela und mit seinen Sozialisten verantwortlich dafür, dass im südamerikanischen Land eine Ordnung herrscht, die allen halbwegs demokratischen, geschweige denn emanzipatorischen Verhältnissen Hohn spricht.
Aber in der Religion der radikalen Linken ist jeder ein Glaubensbruder, der gegen den Westen agitiert oder gegen ihn kämpft, auch eine radikalislamische Terrorgruppe wie die Hamas, die zu einer «Widerstandsbewegung» umgelogen wird. Islamisten in Europa, die Muslime für den Jihad rekrutieren, werden damit entschuldigt, ihr Verhalten sei als «Reaktion» gegen Armut und Ausgrenzung verständlich. Wer ein Feind des Westens ist, darf auf Verständnis zählen.
Monster – und wie man sie bekämpft
Den Westen verstehen zu wollen, bedeutet nicht, seine Versäumnisse, Fehler und verratenen Versprechen zu leugnen. Rassismus, Sklaverei und Kolonialismus sind Tatsachen. Aber das darf nicht dazu führen, die Rolle des Westens bei der Entwicklung von Ideen anzuerkennen, die die Universalität der Menschenrechte und die Bedingung der Möglichkeit individueller Freiheit und gesellschaftlicher Emanzipation überhaupt erst ermöglicht haben. «Der Westen hat nicht nur Monster hervorgebracht», wie Pascal Bruckner schreibt. Er «hat uns auch Theorien gegeben, die helfen, die Monster zu verstehen und zu bekämpfen».
Die emanzipatorischen Ideen der europäischen Aufklärung waren weltweit die treibende Kraft hinter Revolutionen und Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei: Als die Sklaven Haitis 1791 ihre Befreiung forderten, sangen sie die Marseillaise. Es waren die universellen Werte der Aufklärung, die ihnen eine Waffe zur Selbstverteidigung gaben – nicht die Ideologie des Kulturrelativismus oder der «cultural appropriation».
Im Übrigen sind die Monster nicht originär westlicher Provenienz: Sklaverei ist keine eingetragene Marke des Westens. Sie wurde auch in anderen Kulturen praktiziert. Und das islamische Sklavensystem wäre ohne den Druck Grossbritanniens und Frankreichs vermutlich nicht abgeschafft worden. Saudiarabien hat die Sklaverei erst 1962 gesetzlich verboten und Mauretanien sogar erst 1981, als letzter Staat der Welt. Trotzdem besteht die islamische Sklaverei bis heute in manchen arabischen und afrikanischen Staaten fort.
Wenn die radikale Linke zynisch dem Westen den Krieg erklärt, erschafft sie nur neue Monster, die schrecklicher sind als die, die sie zu bekämpfen vorgibt. Es sind die Monster, die erscheinen, wenn die Lichter des Westens ausgehen.
Dieser Text ist am 30.08.2018 in der NZZ erschienen.