Kritiker des UNO-Menschenrechtsrats fragen sich, wie Saudi Arabien, ein Land, das Frauen systematisch diskriminiert, politische Gegner des Terrors beschuldigt sowie Kinder und Abtrünnige des Islams hinrichtet, überhaupt zu einem Mitglied dieser Institution gewählt werden konnte. Doch die Wahl des erzkonservativen Königreichs sollt niemanden überraschen. Denn das höchste Gremium zum Schutz der universellen Menschenrechte wird seit Jahren von missbräuchlichen Regimen dominiert. Die Amerikaner traten diesen Frühling aus dem Rat aus, nachdem Nikki Haley, die US-Botschafterin bei der UNO, ihn als «Protektor der Menschenrechtsverletzer» bezeichnete.

Die Gründe für die Präsenz solcher Staaten im UNO-Menschenrechtsrat sind vielschichtig. Sie lassen sich möglicherweise in der Hoffnung verorten, Unrechtsstaaten an die Kandare zu nehmen, in dem man sie in die Veranwortung einbindet, allem voran wohl aber in machtpolitischem Kalkül. Wie aber schaffen es Staaten, die sich immer wieder Verstösse gegen grundlegende Menschenrechte zu Schulde kommen lassen, sich gegenüber Kritik von Menschenrechtsorganisationen zu rechtfertigen? Saudi Arabien, zum Beispiel, hat niemals zugegeben, dass seine diskriminierenden Gesetze gegen Frauen sowie religiöse Minderheiten mit universellen Menschenrechten nicht vereinbar sind. Ganz im Gegenteil: Das Land versteht diese als legitime Praktiken der seiner Kultur und des islamischen Gesetzes. Als Saudi Arabien unlängst von Menschenrechtsrat aufgefordert wurde, die Todesstrafe für Kinder abzuschaffen, antwortete Bandar Bin Mohammed, der Vorsitzende der saudischen Menschenrechtskommission, «dass das Sharia-Gesetz über allen Konventionen steht, einschliesslich der Kinderrechtskonvention.»

Diese Rechtfertigungsrhetorik, die das Königreich bei solchen Anschuldigungen immer wieder gerne anwendet, mag zwar abstossend sein, sie ist allerdings nicht allzu weit von der aktuellen politischen Realität Europas entfernt. Dies lässt sich besonders am Umgang mit kulturellen Praktiken von muslimischen Einwanderern beobachten.

Die Rechtfertigungstaktik der Saudis basiert auf einer Ideologie, die paradoxerweise unter manchen europäischen Liberalen, Linken und manchmal sogar Rechtskonservativen beliebt ist: Das Argument des kulturellen Relativismus. Es besagt, dass alle kulturellen und religiösen Praktiken eines Landes respektiert werden müssen, selbst wenn sie gegen die grundlegendsten Menschenrechte verstossen. Denn diese Praktiken sind Teil der Identität und des Selbstverständnisses dieses Landes.

Aufgrund dieser Argumentation und unter dem Vorwand, Multikulturalismus zu respektieren, kristisieren westliche Linke und Liberale bestimmte negative Aspekte von Einwandererkulturen nur zögerlich, wenn überhaupt. Indem sie die Religion der Fremden im Schutz nehmen, so ihre Haltung, glauben sie, die fremden Rechte zu verteidigen. Rechtskonservative Kulturrelativsten sehen das pragmatischer. Sie sagen: «Wir haben nichts gegen fremde, patriarchalische Kulturen, wir wollen sie einfach nicht in unserem Land.»

Diese Verteidigung von «Einwandererrechten» verleitet dazu, sich auf offizielle Sprecher zu stützen, die die zu verteidigende Kultur repräsentieren. Diese Repräsentanten sind meist Imame, ethnische Aktivisten oder Vorsteher islamischer Vereinigungen, die von Politik und Mainstreammedien als Vertreter ganzer kultureller Gruppen oder Religionen dargestellt werden. Bestes Beispiel hierfür ist die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr, die im Dialog mit Muslimen auf Repräsentanten islamischer Organisationen setzt.

Dabei werden religiöse und kulturelle Symbole geschaffen, die niemals kritisiert werden können: Eine Asylbewerberin, zum Beispiel, wird nicht als Individuum betrachtet, sondern als Schleier-tragende Muslimin gelabelt. Der Schleier wird zum Symbol, der die Identität der Asylbewerberin repräsentiert, wodurch Kritik am Schleier als einen Angriff auf die Asylbewerberin gerwertet wird. Und das wiederum wird schnell als Rassismus und Islamophobie gebrandmarkt. Verwirrend ist zudem, dass selbst Kritik an den menschenrechtswidrigen Praktiken des Islams zum Ausdruck der Islamophobie gerät und die Praktiken als kulturelle Eigenheiten verniedlicht werden. So wird etwa die weibliche Genitalverstümmelung in «Beschneidung» umbenannt, wie es vor kurzem die Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES Schweiz tat, oder die Burka ihrer Bedeutung als Ausdruck einer repressiven Ideologie beraubt und auf ein Accessoire reduziert, wie es manche Aktivisten der Operation Libero auf Twitter posteten.

Diese Akzeptanz von Religion und Ethnizität als hauptsächliche und einzige Bestimmungsgrössen der Kultur des Mittleren Ostens und der naive Glaube daran, dass die Verteidigung dieser Kultur oder dieser Religion automatisch auch die Rechte des Individuums schützt, unterminiert die Rechte des Einzelnen auf Selbstbestimmung zu Gunsten einer autoritären religiösen Identität. Dieser Multikulturalismus und Relativismus ist deshalb verheerend, weil sie die Diversität, die Heterogenität und die internen Konflikte innerhalb der «Kultur« weder erkennen noch anerkennen. Muslime wie Flüchtlinge werden einzig als homogene Gruppe betrachtet.

Der syrische Autor und Flüchtling Sami Alkayial schrieb: «Glücklicherweise wurde die Sklaverei in islamischen Ländern unter europäischem Druck offiziell abgeschafft, bevor die Vorstellungen der regressiven Linken und des Liberalismus vom „Multikulturalismus“ auftraten. Ansonsten würde der Aufruf zur Abschaffung der Sklaverei heute als kolonialistische Intervention in die kulturelle Struktur der Muslime und als Verstoss gegen die Religionsfreiheit gesehen.»

Die Hinrichtung von Menschen, die die Religion wechseln, ist noch nicht abgeschafft und im UNO-Menschenrechtsrat sitzen aktuell 12 muslimische Länder, die die Forderung einer Abschaffung der Todesstrafe für Abtrünnige als Verstoss gegen ihre kulturellen Rechte ihre Religionsfreiheit und ihre Selbstbestimmung sehen. Sollte Sami Alkayial tatsächlich Recht behalten?

Dieser Text ist am 19.10.2018 in der Weltwoche erschienen.

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