Es gibt eine Sache, worüber bei den meisten politischen Mächten in der islamischen Welt Einigkeit herrscht: In der Verteufelung und Unterdrückung von Atheisten sind Regierungen wie Oppositionsparteien auf Augenhöhe. Es ist keineswegs übertrieben, zu behaupten, dass ein Bekenntnis zum Atheismus in muslimischen Ländern mehr Mut erfordert, als den Umsturz von Monarchien oder einen Regimewechsel zu verlangen.
Atheisten werden in islamischen Ländern nicht nur häufig ausgegrenzt und geächtet, sondern auch des Terrorismus bezichtigt oder als «soziale Gefahr» gerichtlich belangt. Saudiarabien etwa hat den Atheismus in sein Terrorgesetz mit aufgenommen. Unter der Kuppel des ägyptischen Parlaments arbeiten die Minister gerade an einem Gesetzentwurf zur Kriminalisierung des Atheismus. Gemeinsam mit der Al-Azhar-Universität, der höchsten religiösen Autorität im Land, berät das Religionskomitee über Strafmassnahmen, die Atheisten zukünftig abschrecken sollen.
Politische Machtbasis
«Allein im Jahr 2017 konnten in Ägypten 261 Terroranschläge verzeichnet werden, hinter denen allerdings kein einziger Atheist stand, sondern vielmehr islamistische Jihadisten – was genau ist also dieses ‹Risiko des Atheismus›, das der Staat und die Al-Azhar-Universität bekämpfen möchten?», fragt Mustafa Ali, der Administrator einer Facebook-Seite für Atheisten in der islamischen Welt, die mehr als 10 000 Follower hat.
Um die Frage beantworten zu können, muss man die Rolle der Religion im politischen Kontext verstehen. Fehlt es einem Regime an demokratischer Legitimität, stellt die religiöse Legitimität ihre wichtigste Rechtfertigung dar. Das gilt insbesondere für Länder wie Ägypten, wo bei einer 2013 lancierten Umfrage des Pew-Forums 86 Prozent aller Muslime die Meinung vertraten, dass die Abwendung vom Islam gemäss dem Gebot der Scharia mit dem Tod bestraft werden solle.
Das ägyptische Militärregime, das aufgrund seiner Verstösse gegen die Menschenrechte in der Kritik steht, wird bei Bedarf nicht zögern, die Islam-Karte auszuspielen. Diese Strategie wird von Militärregimen in muslimischen Ländern sehr häufig angewendet. So können sie Systeme aufbauen, die mit der religiösen Einstellung der Mehrheit des Landes in Einklang sind. In Libyen beispielsweise lehnte Ghadhafi nach dem Coup den säkularen arabischen Nationalismus ab und erklärte, dass die Scharia die Grundlage für das Recht des Staates sein sollte. In Ägypten war es Präsident Sadat, der eine von oben nach unten gerichtete Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft einleitete; 1971, lange bevor Khomeiny seine Kampagne für die islamische Revolution begann, verpflichtete sich Ägypten auf eine Verfassung, in der die Prinzipien der Scharia «eine Hauptquelle» der Gesetzgebung waren.
Auf der anderen Seite besitzen Regime, die historisch legitimiert sind (wie Monarchien), trotz ihrem Demokratiedefizit grössere Macht, das religiöse Feld zu beeinflussen. Der König von Marokko, der zugleich die höchste religiöse Autorität im Königreich innehat, kann beispielsweise unter bestimmten Bedingungen manchmal religiöse Tabus brechen. Täte ein anderer Politiker oder ein Geistlicher dasselbe, würde er sehr wahrscheinlich wegen Ketzerei oder Verachtung der Religion angeklagt.
Als Beispiel liesse sich hier die Rede von König Mohammed VI aus dem Jahr 2016 zitieren, die live im marokkanischen Fernsehen übertragen wurde. Der König fragte damals, wie es der gesunde Menschenverstand gutheissen könne, dass ein Jihadist mit Jungfrauen im Paradies belohnt werde. Eine klare Botschaft an die Jihadisten, denen sich damals schon schätzungsweise 1350 Marokkaner angeschlossen hatten.
Gesellschaftliche Zwänge
In westlichen Gesellschaften mag Atheismus eine freie persönliche Wahl sein, die keine sozialen oder politischen Konsequenzen mit sich bringt; in muslimischen Ländern hingegen ist man nicht frei, seine Beziehung zur Religion selbst zu bestimmen, da diese nicht nur zur Legitimation des Regierungssystems beiträgt, sondern auch einen essenziellen Aspekt der Identität der Gesellschaft und des Gesellschaftsvertrags darstellt. Diese Tatsache bringt den Atheisten unweigerlich mit einer Schlüsselkomponente der kollektiven Identität und mit den Gesetzen in Konflikt, da Letztere entweder komplett oder zumindest teilweise aus der Scharia abgeleitet sind, insbesondere diejenigen mit Bezug auf Familie und persönliche Freiheiten.
Atheisten könnten im Islam als Katalysator dienen, der den Islam zu einer liberalen Reform führt.
Die Realität der muslimischen Welt von heute ähnelt dem Alltag in Europa vor der Moderne. Von Platons Republik bis zu Thomas Morus’ «Utopia» stand im Westen stets das Kollektiv im Vordergrund, in dem der Einzelne lediglich eine Rolle zu erfüllen hatte, die dem Interesse und den Vorteilen des Kollektivs diente. Deshalb ist es unmöglich, über eine Zukunft zu reden, in der religiösen Minderheiten in der islamischen Welt Rechte garantiert werden, ohne gleichzeitig über die philosophische wie politische Validierung des Individuums zu sprechen. Die Anerkennung der Rechte und der intellektuellen Unabhängigkeit des Einzelnen und deren Schutz durch den Staat ist das, was in den muslimischen Gesellschaften von heute gebraucht wird.
Atheismus als Katalysator
Wir können nicht über den Atheismus in der muslimischen Welt reden, wenn wir nicht gleichzeitig die Gründe ansprechen, die die Menschen dazu veranlassen, sich vom Glauben abzuwenden. Insbesondere der brutale Terror radikalislamistischer Gruppierungen brachte viele Muslime dazu, ihre Religion infrage zu stellen. Ausserdem ist der Atheismus auch in feministischen Kreisen weit verbreitet, da sie die Religion als Hindernis für die Gleichberechtigung der Geschlechter sehen.
Diese und weitere Gründe veranlassten einige muslimische Reformer, die Repression gegenüber Atheisten zu kritisieren. Sie sind der Meinung, das eigentliche Problem läge in der vielerorts zunehmenden Radikalität des heutigen Islams; einige von ihnen fordern deshalb eine liberale Reform, bevor die Moscheen noch mehr Gläubige verlieren. Manche progressiven Denker glauben sogar, dass die Atheisten im Islam als Katalysator dienen könnten, der den Islam zu dieser liberalen Reform führt. Sie könnten durchaus recht haben, da Religion gewisse Parallelen zu einem Unternehmen aufweist. Wenn die Kunden abwandern, werden Reformen und Selbstkritik dringend notwendig – sonst droht der Bankrott.
Vielen Atheisten in der muslimischen Welt hingegen bedeutet die Diskussion über eine Reform des Islams nicht viel. Sie wünschen sich vielmehr einen modernen säkularen Staat, der die Menschenrechte und die Würde aller achtet – und nicht nur derjenigen, die das Glück haben, der Staatsreligion anzugehören.
Dieser Artikel ist am 23. Mai 2018 in der NZZ erschienen