Dieses Interview wurde in der FDP-Mitgliederzeitung veröffentlicht.
Kacem El Ghazzali kam als politischer Flüchtling in die Schweiz und wandelte sich vom Marxisten zum Liberalen.
Er ist seit einem Jahr Mitglied der FDP Zürich. Ein Gespräch über die Freiheit, die Linke und den Islam.
Kacem, Sie rufen Marokkaner, die den Ramadan nicht befolgen, dazu auf, in sozialen Medien Bilder von sich selbst beim Essen zu posten. Weshalb?
Die Existenz von sexuellen, religiösen oder anderen gesellschaftlichen Minderheiten wurde in Marokko vorher schlicht geleugnet. Auch in der Wahrnehmung vieler Europäer ist die islamische Welt ein homogener Block ohne innerliche Konflikte. Mit solchen Aktionen können wir zeigen, dass Andersdenkende existieren und wahrgenommen werden. Wieso sollte man das Nichteinhalten des Ramadans kriminalisieren? Wieso sollte man sich beim Essen verstecken müssen?
Für Ihren Einsatz für mehr Freiheit mussten Sie teuer bezahlen.
Als Schüler engagierte ich mich für die Freiheit und Menschenrechte und schrieb in meinem Blog religionskritische Artikel. Meine Gesellschaftkritik kannte keine roten Linien, was viele geärgert hat und mir Todesdrohungen einbrachte. Ich wurde aus der Schule ausgeschlossen, musste mein Dorf verlassen und in Casablanca und Rabat untertauchen. Ein Freund riet mir, aus Marokko zu fliehen, und er sagte mir, es gebe nur ein einziges Land, wo ich bei einer Botschaft Asyl beantragen kann: die der Schweiz. Zunächst waren Sie wenig begeistert… Ich lachte daher zuerst über diesen Gedanken, denn die Schweiz war für mich als Linker damals eigentlich ein kapitalistisches Feindbild; das Land, das Guevara den «Kopf des kapitalistischen Monsters» nannte. Ich hatte dann aber ein langes Gespräch mit dem Schweizer Botschafter in Marokko und konnte ihm belegen, dass ich Schutz brauche. Ich hatte zunächst dennoch wenig Hoffnung. Nach ein paar Wochen bekam ich aber einen Brief aus Bern und durfte in die Schweiz kommen.
Sie haben sich in der Schweiz am Anfang nicht immer wohlgefühlt – weshalb?
Zwischen 2011 und 2013 hatte ich in der Schweiz den Status eines Asylbewerbers; ich hatte keine Chance, einen Deutschkurs zu besuchen oder etwas Nützliches zu machen ausser zu warten und auf Arabisch über die Entwicklungen des Arabischen Frühlings zu schreiben. Der Westen war für mich das Sehnsuchtsland freier Gedanken und der Aufklärung. Ich merkte bald, dass mein Bild zu stark idealisiert war. Als ich hierherkam, war ich viel unterwegs in linken Kreisen. Und es hat mich schockiert, welche Haltungen ich hier antraf – insbesondere die verteidigende Haltung gegenüber dem politischen Islam. Ich fühlte mich dort schnell unwohl.
Warum das?
Ich fühlte mich nicht wie ein ebenbürtiges und eigenverantwortliches Individuum behandelt, sondern wie ein Kind, das ständig Schutz und Hilfe braucht und den Gottesdienst mit seiner Kritik nicht stören darf. In solchen Kreisen wird jegliche Kritik an Flüchtlingen bzw. Migranten tabuisiert. Als ich etwa das Problem muslimischer Asylsuchender thematisierte, die andere wegen ihrer Religion oder sexuellen Ausrichtung belästigen, schenkten mir viele Linke kein Gehör. Laut ihrer Logik darf man solche Probleme nicht publik machen. Wenn man dies tut, wird man zu einem Rassisten, der den Rechten Argumente liefert. Ich erinnere mich auch, wie ich eines Tages zur Sozialhilfestelle ging und sagte: «Ich bin jung, ich will etwas leisten. Bitte helft mir, einen Job zu finden, auch wenn er ehrenamtlich wäre.» Die Antwort war, ich müsse mir keine Gedanken machen. Ich könne problemlos fünf, sechs, gar acht Jahre Sozialhilfe beziehen.
Wann änderte sich Ihre politische Haltung – vom Linken zum Liberalen?
Liberal war ich immer. In Marokko waren das Individuum und seine Rechte im Zentrum meines Engagements. Was aber das Wirtschaftliche betrifft, muss ich ein praktisches Beispiel machen: Die Linke in Europa greift internationale Firmen an. Wir Linke in Marokko freuten uns immer, wenn internationale Unternehmen zu uns kamen – sie gaben vielen Menschen Jobs und Perspektiven. In Marokko herrschen aber andere Verhältnisse. Was wir als Linke damals verlangten, ist für Liberale in Europa heute unbestritten – zum Beispiel ein geregeltes Arbeitsrecht. Die Linke hierzulande ist sehr dogmatisch, Kapitalismus ist ihr Feindbild. Die Linke in der muslimischen Welt ist da viel pragmatischer. Sie würden also die SP nicht wählen? Nein. Die Linke in Europa ist eigentlich rechts geworden. Kulturkampf-Begriffe der Rechten – Kulturrelativismus, Identitätspolitik – werden zunehmend übernommen. Zwar verdankt Europa seine Errungenschaften teilweise auch der Linken. Aber auf grosse Herausforderungen der Zukunft hat die Linke für mich als jungen Mann keine passenden Antworten: Digitalisierung; Zusammenleben in einer bewusst liberalen Gesellschaft, die ihre Werte verteidigt; realistische Migrationspolitik, Integration und Wertevermittlung, Toleranz und ihre Grenzen. Da sind echt liberale Lösungen für mich alternativlos.
A propos liberal – fehlt es im Islam an einer aufklärerischen Bewegung?
Modernisierung und die islamische Welt sind nicht zwingend ein Widerspruch. In der langen Geschichte des Islam gab es immer die Stimmen, die für philosophische Aufklärung einstanden. Die Frage ist: Wieso haben sich diese reformatorischen Strömungen nicht durchgesetzt? Diese hartnäckige Resistenz gegenüber Modernisierung und Aufklärung liegt nicht zuletzt auch im Islam als Religion selbst, und zwar beim politischen Islam. Unsere Probleme damit sind nicht vom Himmel gefallen. Liberale, säkulare Muslime wie Elham Manea, Ahmed Mansour oder Seyran Ates sehen das, üben Selbstkritik und nennen das Kind beim Namen.
Wie kann der Freisinn diese Debatte unterstützen?
Die FDP als Partei könnte säkulare Muslime unterstützen, indem sie die Debatte zurück in die Mitte der Gesellschaft holt. Wir brauchen einen Ausweg aus der Polarisierung von Links und Rechts, es braucht einen liberalen Pol. Bei allen politischen Fragen – von Burka über radikale Imame bis zum Kopftuch in Schulen und den Handschlag – sollten säkulare Muslime in die Diskussion eingebunden werden. Wenn wir Muslime als ebenbürtige Bürger verstehen und behandeln, verstehen wir auch deren Sorgen und Probleme. Dadurch wird die Kritik am Islam zu einer legitimen schweizerischen Angelegenheit. Anstatt als Gesellschaft zu trennen zwischen «Wir und Sie», sollten wir mit den Muslimen als Bürger unseres Landes reden – durch die Verfassung mit ihren Rechten und Pflichten. Das wäre eine vernünftige Herangehensweise.
Sollten jegliche religiösen Symbole aus Schulen verbannt werden?
Ich wünschte mir, dass man hier nicht alles in einen Topf wirft. Es gibt religiöse Symbole. Es gibt aber auch Symbole, die als religiöse Symbole angesehen werden und gleichzeitig Werkzeuge von Sexismus und Unterdrückung sind. Ich persönlich bin prinzipiell gegen ein Kreuz in Schulräumen. Aber ich lehne es ab, ein Kreuz mit einem Kopftuch zu vergleichen – Letzteres ist eine spezifische Diskriminierung des Geschlechts. Zudem: Das Kind ist sprachlich gesehen ein Neutrum, hat kein Geschlecht. Ein Kopftuch sexualisiert das Kind und verhindert eine normale, neutrale Entfaltung des Kindes. Hier stellt sich die Frage, was wir Liberale höher gewichten: die ideologische Überzeugung der Eltern oder das Recht auf freie Entfaltung des Kindes.
Es gibt auch Frauen, die die Burka aus religiöser Überzeugung tragen.
Das mag sein. Mit ihnen habe ich aber wenig Mitleid, denn sie grenzen sich selbst aus. Sie unterstützen eine extreme Ideologie. Und es gibt tatsächlich auch die Frauen, die gezwungen werden, solche Burkas zu tragen. Zwar verbietet das Gesetz die Unterdrückung der Frau. Aber in solchen Gemeinschaften sind Frauen das schwächste Glied. Wie soll man von einer unterdrückten Frau erwarten, dass sie sich wehrt, wenn sie nicht über die Mittel zu Selbstemanzipation und Unabhängigkeit verfügt? Frauen und Mädchen, die den Schleier ablegen, werden oft bedroht, angegriffen und sozial ausgegrenzt. Ich kenne das auch aus persönlicher Erfahrung.
Es besteht in der Schweiz eine grosse Angst vor Parallelgesellschaften. Moscheen und Imame werden zum Teil aus dem Ausland finanziert.
Das ist ein grosses Problem. Insbesondere die Finanzierung von Vereinen oder Moscheen durch Staaten, die systematisch die Menschenrechte verletzen oder sogar terroristische Organisationen unterstützen. Darauf sollte die Politik Antworten finden. Aber auch hier: Mit populistischen Lösungen kommen wir nicht weiter, wir müssen gangbare Kompromisse finden.
Mehrere Kantone tendieren in Richtung Anerkennung des Islam. Könnte das ein Weg sein in Richtung Säkularisierung des Islam und gelungener Integration?
Unsere Aufgabe als Liberale ist, die individuelle Freiheit zu stärken und nicht das religiöse Kollektiv. Ich denke nicht, dass man einen Menschen durch die Religion integrieren kann oder muss. Viele Muslime und Andersgläubige in diesem Land haben sich mit Eigenverantwortung erfolgreich integriert. Der Erfolg von Integration hängt weniger von religiösen denn von Werten der europäischen Moderne ab – indem die Religion eine persönliche Sache ist und nicht die sozialen Beziehungen darüber definiert werden. Die Freiheit des Individuums macht Menschen kreativer, die Wissenschaft fortschrittlicher und lässt die Wirtschaft florieren. Das ist unsere «Leitkultur». In einer von liberalen Werten geprägten Gesellschaft sollten wir diese Leitwerte als Gebot für neuankommende Migranten aufstellen. Nur dadurch können sie sich integrieren. Integration misst sich nicht nur an Sprache und Arbeit. Es gibt auch eine emotionale Integration, eine Identifikation mit diesem Land und seinen Grundrechten und -werten. Wirklich integriert ist, wer die Rechte und Pflichten des Landes nicht nur akzeptiert, sondern auch zu verteidigen bereit ist.
Das Gespräch mit den Individuen soll also über die Verfassung geführt werden und nicht über Religionen.
Genau. Von einer Anerkennung des Islam als Religion in der Schweiz wird wohl nur der politische Islam profitieren. Dessen Exponenten versuchen, sich als offizielle Vertreter aller Muslime in der Schweiz zu präsentieren. Es könnte patriarchale Strukturen und Bürokratie sogar verstärken. Wir brauchen religiösen Gemeinschaften keine Sonderrechte einzuräumen – jeder ist seines Glückes Schmied