Seit jeher waren Städte für ihre Mauern bekannt, jene massiven und hohen Grenzen, die zum Schutz vor potenziellen Feinden oder Gefahren als Abwehr fungierten. Die moderne, offene Stadt ist das krasse Gegenteil davon. Sie hat keine Mauern, ist weltoffen, mehrsprachig und strotzt vor kultureller Vielfalt. Sie bietet ihren Bewohnern Anonymität und stärkt dadurch ihre Individualität und ihre Freiheit. Das macht die Stadt zum idealen Umfeld für Kreativität, Entwicklung und den Austausch von Erfahrungen.
Auf der anderen Seite ist die offene Stadt leider nicht sicher: Nach den Anschlägen in New York, Madrid, Paris, London und Brüssel wurde der Debatte über die Zukunft der offenen Stadt als Plattform für Vielfalt und Miteinanderleben neues Leben eingehaucht. Unsere Weihnachtsmärkte und OpenAir-Konzerte sind nicht mehr dieselben wie früher; die Betonblöcke, die unsere öffentlichen Versammlungsorte heutzutage umschliessen, erinnern uns ständig daran, dass wir nicht sicher sind. Und da die offene Stadt die Verkörperung einer offenen, demokratischen Gesellschaft ist, bin ich der Meinung, wir müssen eine ehrliche Debatte über die offene Gesellschaft führen und welchen Herausforderungen sie sich heute gegenübergestellt sieht. Jedem, der sich politische Talkshows ansieht, wird auffallen, dass die selbsternannten Freunde der offenen Gesellschaft oft keinerlei Anstalten machen, ihre politischen Einstellungen – beispielsweise für Einwanderungsförderung oder für offene Grenzen – zu rechtfertigen. Oft reicht es ihnen, ihre Sätze einfach mit „Es gehört zu einer offenen Gesellschaft dazu, dass…“ zu beginnen, um ihren Gesprächspartner, der eher kritische Fragen aufwirft, zu einem direkten Feind der „offenen Politik“ und entsprechend zu einem Befürworter einer geschlossenen Gesellschaft zu machen. Ich leugne nicht, dass ich manchmal ebenfalls zu den Leuten gehöre, die ihre Sätze mit „Es gehört zu einer offenen Gesellschaft dazu, dass…“ beginne. Ich glaube, dass es zunächst wichtig ist zu definieren, was mit einer offenen Gesellschaft überhaupt gemeint ist, bevor wir definieren, was zu ihr dazu gehört und was nicht.
Wenn wir die Linie ziehen wollen, an der eine offene Gesellschaft beginnt, müssen wir zuerst die Freiheit des Einzelnen betrachten. Diese Freiheit ist das Mass für die Offenheit einer jeden Gesellschaft. Je freier eine Person in ihren Entscheidungen und bei ihrem Lebensstil ist, desto offener ist die Gesellschaft, in der sie lebt. Es ist keineswegs Zufall, dass Diktaturen aller Arten ihren Krieg hauptsächlich mit Einzelpersonen austragen und gleichzeitig das religiöse, familiäre und politische Kollektiv hervorheben. Eine offene Gesellschaft kann nur in einem liberalen Staat entstehen, der religiösen oder ethnischen Kollektivismus nicht als Bestimmungsfaktor für den Gesellschaftsvertrag sieht, sondern die Einzelperson in all ihrer Vielfalt und Widersprüchlichkeit. Und genau wie der liberale Staat die Einzelperson schützt und ihre Rechte garantiert, greift er ebenfalls mit seinen beschränkenden Gewalten ein, damit ein Einzelner nicht willkürlich die Rechte, die Sicherheit und Freiheiten anderer Bürger verletzen kann. Karl Popper erachtete den Angriff des Kollektivs auf den Individualismus als eine der grössten Bedrohungen für eine offene Gesellschaft. Die Freiheit des Einzelnen ist jedoch nicht absolut, sondern eingeschränkt. Ebenso wie eine freie Gesellschaft die Freiheit ihrer Mitglieder garantieren muss, muss sie sicherstellen, dass diese Freiheit weder ihre Sicherheit bedroht noch von faschistischen Kräften, wie etwa Rechtsextremen, dem politischen Islam oder anderen Bewegungen, welche die Grundlagen aller Freiheiten untergraben, ausgenutzt wird. Die persönliche Freiheit geht Hand in Hand damit, dass die Gleichheit vor dem Gesetz und das Recht auf Unterschied gewährleistet sind. Ohne das Recht auf Unterschied kann es keine Freiheit geben. Versuche, die Unterschiede zwischen einzelnen Menschen durch sogenannte „Gleichmacherei“ auszumerzen, was durch die Auferlegung eines bestimmten Lebensstils geschieht, – wie etwa die Verhinderung des Konsums bestimmter Lebensmittel und Getränke durch Preiserhöhungen oder gar deren Verbot – stellen nicht nur eine freiheitsfeindliche Politik dar, sondern auch paternalistische Vormundschaft gegenüber dem Einzelnen und sind damit Eigenschaften einer geschlossenen Gesellschaft. Immanuel Kant hat bereits vor mehr als zwei Jahrhunderten auf diesen Punkt aufmerksam gemacht: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art glücklich zu sein, sondern jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Weg suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur die Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben… nicht Abbruch tut.“ Wer die politische Debatte von heute verfolgt, wird erkennen, dass er wie Kant, als er damals diese Zeilen verfasste, versuchen muss, sich gegen die politische Bevormundung unserer heutigen Zeit zu wehren, die der Meinung ist, sie kenne die Interessen und Bedürfnisse des Einzelnen besser als die Person selbst.
Wir können dies in jeder Debatte über gentechnisch veränderte Produkte, den Konsum von Marihuana oder die Billag-Gebühren erkennen, wo die Sprache der „politischen Bevormundung“ vorherrscht und das Motto „Der Staat weiss besser über die Interessen des Einzelnen Bescheid als die Person selbst“ gilt.
Eine weitere wichtige Eigenschaft einer offenen Gesellschaft ist ihre Offenheit für Veränderung und Anpassung, da sie keine dogmatische Ideologie repräsentiert (wie manche Leute das gerne haben möchten). Veränderung und Anpassung erfordern, dass freie Meinungsäusserung, Diskussionen ohne Tabus und freie Kritikäusserung gewährleistet sind. Aufgrund der wachsenden Macht der Identitätspolitik innerhalb des politischen und sozialen Diskurses wird dies heutzutage allerdings immer schwieriger. Wir können alle erkennen, wie die Identitätspolitik von heute in Konflikt mit dem Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz steht und wie sie eine Gefahr für die Prinzipien der Gerechtigkeit darstellt, beispielsweise Unschuldsvermutung (der Angeklagte ist bis zum Beweis der Schuld unschuldig).
So kann im Rahmen von Social-Media-Kampagnen wie #metoo die Karriere einer politischen oder öffentlichen Person ausschliesslich anhand von Anschuldigungen und ohne Vorlage tatsächlicher Beweise zerstört werden. Eine weitere Bedrohung der Identitätspolitik für die offene Gesellschaft ist die vermehrte Zensur der Rede in Universitäten, Museen und kulturellen Einrichtungen, wo Menschen dazu gezwungen werden, ihre intellektuelle Freiheit aufzugeben, um die Gefühle einer bestimmten religiösen oder ethnischen Minderheit nicht zu verletzen.
„Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“
Es sollte nicht weiter überraschen, dass Karl Popper sein Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ bei mehr als nur einem Anlass als „Kriegsbeitrag“ beschrieb. Popper war der Meinung, dass sich die offene Gesellschaft zur Verteidigung der Freiheit und der Demokratie direkt und effektiv mit den schlimmsten Faschisten seiner Zeit auseinandersetzen musste: dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Laut Popper ist eine offene Gesellschaft nicht staatsfeindlich, sondern arbeitet vielmehr daran, ihre Feinde zu entlarven. Sie befindet sich ständig im Krieg mit ihnen, doch um etwas verteidigen zu können, muss man wissen, wo man steht und welche Grenzen man schützt. Anders ausgedrückt: Eine offene Gesellschaft ist nicht für alles offen. Sie kennt ihre Grenzen, die sie von ihrem Gegenteil, der „geschlossenen Gesellschaft“ unterscheid. Zweifellos stellen der politische Islam und die extremen Rechten die grössten Bedrohungen für die offene Gesellschaft und ihre garantierten Freiheiten dar. Diese Ideologien weisen trotz ihres gegenseitigen Hasses die gleiche Gesellschaftswahrnehmung auf, da sie beide den Pluralismus ablehnen, persönliche Freiheit und das Recht auf Unterschied bekämpfen und nicht an die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte glauben. Die Verteidigung einer offenen Gesellschaft erfordert deshalb, diese Ideologien unerbittlich zu bekämpfen. Wichtiger Hinweis: Islamisten akzeptieren Pluralismus, allerdings nur in einer Richtung: Wenn sie selbst, als Minderheit, von ihm im Westen profitieren. In ihren eigenen geschlossenen Gesellschaften lehnen sie Pluralismus jedoch kategorisch ab.
Der Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft kann jedoch nicht durch Musikkonzerte ausgetragen werden, die Slogans über Frieden und Miteinander verbreiten. Die Bekräftigung der Notwendigkeit eines gemeinsamen Zusammenlebens ist selbstverständlich wichtig und die Organisation von Poesieabenden in linksliberalen Bars, die Frieden fordern, ist eine nette Sache; doch wie ist es um die Effektivität dieser Dinge bestellt, wenn sich die Gesellschaft mit islamistischem Terror konfrontiert sieht? Es wäre naiv zu glauben, dass das Tweeten von Posts wie „Wir haben keine Angst; unsere Gesellschaft wird immer offen bleiben“ nach Terroranschlägen uns magisch dazu befähigt, den Terror zu bezwingen. Diese Reaktionen, die wir weit verbreitet unter den Anhängern des linken Spektrums antreffen können, erinnern mich an eine Szene aus dem Film „Mars Attacks“ von Tim Burton, in dem die Erde von Ausserirdischen eingenommen wird. Bei ihrer Ankunft steht diesen Ausserirdischen eine Gruppe Hippies gegenüber, die sie mit Musik und Bannern begrüssen, auf denen Dinge stehen wie „Wir lieben euch, wir sind alle Freunde“. Leider sind die Ausserirdischen nicht zur Erde gekommen, um Free-Hugs auszuteilen, und zücken bei diesem liebevollen Empfang dementsprechend ihre Pistolen und verbrennen alle, die vor ihnen stehen.
Diese derbe Szene erinnert uns daran, dass die Verteidigung einer offenen Gesellschaft nicht nur durch Slogans über Liebe und Toleranz erfolgen kann, sondern dass wir von den „Anderen“ ebenfalls den Willen zum Miteinander fordern müssen – selbst wenn dies im Hinblick auf deren Religion oder Kultur Zugeständnisse ihrerseits nach sich zieht. In einer offenen Gesellschaft ist kein Platz für Kulturen, die Frauen und ihre Körper als etwas Schmutziges und Sündiges erachten, das verhüllt werden muss; die junge Mädchen zwingen, den Hijab zu tragen, obwohl dies das Recht des Kindes auf freie Entwicklung aufs Stärkste verletzt; die Moscheen ausnutzen, um in ihnen zu Hass und Gewalt aufzurufen, und auch nicht für diejenigen, die unter dem Banner des Christentums Europas dazu aufrufen, Moslems aus der Gesellschaft auszuschliessen.
All das kann in einer offenen Gesellschaft nicht begrüsst oder toleriert werden. Angesichts solcher Herausforderungen dürfen die Politik und ihre Freiheitsinstitutionen solch illiberalen Manifestationen keine Gnade zeigen. Der Gesellschaft muss zudem klar werden, dass sie vor der Verteidigung des Säkularismus, der Freiheit und des Individualismus im Namen der Toleranz nicht zurückscheuen darf. Jeder, der diese Werte ablehnt, muss sich eine andere Gesellschaft suchen und jeder, der in Europa einwandert, muss wissen, dass in Europa den einzelnen Personen Rechte zustehen, nicht aber den Religionen und Kulturen. Weiterhin muss jedem klar sein, dass bei uns die Religion den Gesetzen der Verfassung untergeordnet ist, nicht umgekehrt. Oder mit den Worten des Philosophen Michael Schmidt-Salomon: „Wer partout nicht will, dass seine Kinder in einer freien Gesellschaft aufwachsen, wird sein Exil ausserhalb Europas suchen.“ Andere Kulturen und Ideologien dürfen keinen einschränkenden Einfluss auf die Beziehung zwischen den Einzelpersonen innerhalb einer Gesellschaft haben.
Die Gewährleistung des Rechts auf Unterschied darf keine Rechtfertigung dafür sein, die Rechte des Einzelnen zu verletzen oder bestimmte Verhaltensweisen zu tolerieren, die nicht mit der Menschenwürde und den Menschenrechten in Einklang stehen. In einer offenen Gesellschaft, in der sich verschiedene Kulturen und Religionen zusammenfinden, brauchen wir deshalb ein Rahmenwerk, das ihre Beziehungen zueinander regelt. Es muss dazu dienen, sämtliche Streitigkeiten aufzulösen, die aufgrund von unterschiedlichen Ansichten und Weltanschauungen entstehen könnten. Aus diesem Grund brauchen wir eine „Leitkultur“, die die Verkörperung von Werten wie Liberalismus, Gleichheit, Individualismus, Säkularismus und universellen Menschenrechten beinhaltet. Eine offene Gesellschaft ist wie eine Strasse, auf der die Leitkultur die Verkehrsordnung darstellt. Zwar kann jeder auf der Strasse fahren, doch müssen die Strassenverkehrsregeln von allen respektiert werden – ansonsten könnte es zu tödlichen Folgen kommen. Dieses Angebot der „Leitkultur“ gilt zudem nicht nur für Neuankömmlinge, sondern für alle – selbst für diejenigen, die sich bereits seit vielen Generationen hier befinden.
Schreckliche Reduzierung
Das Konzept einer offenen Gesellschaft wurde in den letzten Jahren ideologisch verzerrt; sie wurde zu einer Gesellschaftsform ohne geografische Grenzen reduziert, die fremde Kulturen, Flüchtlinge und Migranten willkommen heisst, es gleichzeitig aber ablehnt, jedwede Bedenken über die sozialen und kulturellen Herausforderungen anzusprechen, die diesen Prozess begleiten. Wenn sich die Gesellschaft mit Einwanderungsproblemen konfrontiert sieht, verfällt der Freund der pseudo-offenen Gesellschaft in einen Zustand der permanenten Ablehnung und weigert sich, der Natur des Problems ins Auge zu blicken. Als Beispiel dienen hier die Aussagen linker Politiker, nachdem eine junge Frau vor einem Genfer Nachtklub brutal angegriffen wurde oder als Frauen während der Strassenparade in Zürich sexuell belästigt wurden und man herausfand, dass die Straftäter in beiden Fällen einen Migrationshintergrund hatten. Die Politiker des linken Flügels, von SP bis AL, weigerten sich anzuerkennen, dass die wachsende Gewalt gegenüber Frauen der letzten Jahre ebenfalls mit der Einwanderung von Kulturen zu tun hat, die Frauen als weniger wertvoll erachten als Männer. Das Leugnen der Fakten ist wahrlich unverschämt, doch „man kann die Realität ignorieren, aber man kann nicht die Konsequenzen einer ignorierten Realität ignorieren« (Ayn Rand).
Weiterhin ist der Freund einer offenen Gesellschaft zu jemandem geworden, der gegen die Parteien des rechten Flügels kämpft, da er angeblich an die Notwendigkeit glaubt, die Werte der Freiheit verteidigen zu müssen; gleichzeitig vermeidet dieser Freund indessen Kritik am politischen Islam und dessen Unterstützern. Die offene Gesellschaft wird damit nicht verteidigt, sondern hintergangen. Die Verteidigung der offenen Gesellschaft funktioniert nicht, wenn den Faschisten im eigenen Land der Krieg erklärt wird, während Faschisten anderer Kulturen und Religionen, die jene persönlichen Rechte der offenen Gesellschaft mit Füssen treten, im Namen der Toleranz verteidigt und gebilligt werden. Die Verteidigung der offenen Gesellschaft funktioniert nicht, wenn jeder illegale Einwanderer als Flüchtling angesehen wird und man für ihn das „Recht« im Land zu bleiben verlangt, selbst wenn ihm vom Staat kein Asyl gewährt wurde, und wenn sämtliche politische Gegner als Flüchtlingsfeinde hingestellt werden, nur weil sie das Gesetz ausüben und jene ausweisen möchten, deren Asylantrag abgelehnt wurde.
Die Verteidigung einer offenen Gesellschaft funktioniert nicht, wenn Integrationspolitik gemacht wird, welche die Einzelperson auf eine ethnische oder religiöse Identität reduziert (Moslem, Afrikaner usw.). Dies stellt ein Hindernis für den Prozess der individuellen Befreiung dar und trägt zur Förderung einer kollektiven Identität bei. Somit werden Parallelgesellschaften befördert, welche die Sicherheit und das Zusammenleben gefährden; dazu zählt beispielsweise die anti-säkulare Initiative der SP, die Integration von Moslems in der Schweiz zu erleichtern, indem der Islam als Staatsreligion anerkannt wird. Unsere Stadt braucht keine Mauern, um sich zu schützen. Was sie allerdings dringend benötigt, ist ein Bewusstsein für die Notwendigkeit, die Werte zu verteidigen, welche die offene Gesellschaft stärken. Kurz gesagt: Wir sollten den Feinden der Offenheit nicht offen gegenübertreten. Noch sollten wir uns dafür schämen, unsere positiven europäischen Werte zu verteidigen, wie den Liberalismus, die Demokratie und die Selbstkritik. Und nochmals: Eine offene Gesellschaft ist nicht für alle Dinge offen.
Dieser Artikel ist zuerst in dem Sammelband “Liberale Antworten auf urbane Fragen” erschienen.
Eine kurze Fassung wurde in der Weltwoche veröffentlicht.