Vor zwei Jahren gingen furchtbare Bilder um die Welt, als Kämpfer des Islamischen Staats antike Statuen in Syrien niederrissen und damit der menschlichen Zivilisation und ihrem historischen Erbe den Krieg erklärten. Dieser Akt unterschied sich von der Symbolik her nicht allzu sehr von den Kampagnen der faschistischen Bewegungen in Europa während des Zweiten Weltkriegs gegen Kunst und Künstler.

In Marokko liess sich eine Gruppe junger Intellektueller einen Weg einfallen, wie sie auf den Krieg islamistischer Terrorbewegungen gegen die Kreativität reagieren könnten. Die Frage, die sich ihnen stellte, lautete: Was können wir als Intellektuelle dem Terrorismus entgegensetzen? Die Antwort des marokkanischen Dichters Mohamed Moksidi: «Wir haben nicht viel, wir können nur die Kunst, die Poesie, die Literatur und die freie Meinungsäusserung gegen alle Formen des religiösen Faschismus feiern. Das ist der Weg zur Freiheit.»

Ein sehr idealistischer Ansatz, denn was sonst kann ein Künstler angesichts der Zerstörung schon tun, wenn nicht Orte der Schönheit und der Freiheit auf dieser verbrannten Erde zu errichten? Moksidi sagt: «Wenn ihre Waffen voller Kugeln sind, müssen unsere Stifte voll sein mit der Schönheit des Wortes und erfüllt sein von Freiheit.»

Das Schöne, das Gute, das Wahre

Also rief er mit ein paar anderen Künstlern und Intellektuellen gleichermassen als Waffe der Kritik gegen den islamistischen Terror das Cultural Wave Magazine ins Leben, dessen erste Ausgabe «Kunst gegen den IS» lautete. Die Ausgabe wurde von Liberalen und Freidenkern in Marokko und der arabischen Welt sehr gut aufgenommen; ein paar Wochen später wurde sie von vielen sogar als ein «Manifest gegen religiöse, soziale und politische Zensur» der Kunst und gegen alle anderen Normen, die das Schöne, Gute und Wahre einschränken, bezeichnet.

The Cultural Wave war ein Experiment, das seit 2015 kontinuierlich sexuelle und religiöse Tabus in der islamischen Welt gebrochen hat – und dies trotz vieler Versuche, das Magazin über politische und soziale Macht- und Druckinstrumente zu zensieren. Bemerkenswerterweise hat es dennoch grosse Erfolge verzeichnen können und wurde zu einer Plattform für liberale Autoren und Linke sowie zu einem leuchtenden Stern für Akademiker, Kritiker und Professoren aus unterschiedlichsten Ländern des Mittleren Ostens und Nordafrikas. Das Rezept für diesen fast schon magischen Erfolg lässt sich im Slogan des Magazins zusammenfassen: «Ja zur Kreativität, Nein zu allen Formen der Zensur».

Gleichzeitig werden im Westen immer mehr Stimmen laut, die Kunst und Kreativität eine ideologische Kontrolle auferlegen wollen, was in einem schroffen Gegensatz zu den marokkanischen Autoren und ihrem Kulturprojekt The Cultural Wave steht. Es mutet geradezu schizophren und zivilisationsmüde an: Trotz der Errungenschaften der westlichen Zivilisation in vielen Ländern, wie etwa der Meinungs- und Kunstfreiheit, existieren zunehmend Bewegungen im Westen, die dieselben Kontrollstrategien wie in der arabischen und islamischen Welt anwenden, um Kreativität und Kunst zu zensieren.

Der Kampf gegen die Zensur

Es ist noch nicht lange her, als sich in der Welt der Kunst eine der #MeToo-Bewegung nicht unähnliche Stimme erhob, unverhohlen nach Zensur schrie und mittels einer Online-Petition einen Feldzug gegen Kunst und Geschichte führte. Im November 2017 war es, als Berufsempörte eine Petition beim Metropolitan Museum of Art in New York einreichten, um das grossartige Gemälde «Thérèse, träumend» des Künstlers Balthus (Balthasar Klossowski) entfernen zu lassen. In der Online-Petition wurde behauptet, das Gemälde wäre pornografisch und würde zu Pädophilie ermutigen. Glücklicherweise liess die Weigerung des Museums allerdings nicht lange auf sich warten: «Dies ist eine Gelegenheit zum Dialog, und die visuelle Kunst ist eines unserer wichtigsten Mittel, sowohl über die Vergangenheit als auch über die Gegenwart nachzudenken.»

Die Geschichte der Kunst ist wahrlich erfüllt vom Kampf gegen die Zensur, von der Renaissance, als die Werke von Michelangelo bereits wenige Jahrzehnte nach ihrer Fertigstellung von Papst Daniele de Volterra als unheilig und unethisch bezeichnet wurden, über die Nazi-Zeit und ihren Kampf gegen die sogenannt «entartete» Kunst bis hin zur Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan durch die radikal-islamischen afghanischen Taliban. Heutzutage wird der andauernde Krieg gegen Gemälde, literarische Werke, kurzum: gegen jegliche ästhetische Erfahrung von jenen geführt, die sich der politischen Korrektheit verpflichtet fühlen.

Das antimoderne Ressentiment, das der Kunst durch alle Zeiten hindurch entgegenschlägt, zeigt schonungslos auf, dass Zensur niemals Teil einer liberalen Tradition war, sondern immerzu ein Teil von totalitären Ideologien. Faschistische Bewegungen fürchten sich immer vor dem autonomen Kunstwerk, da es allem voran als «Statthalterin der Befreiung» (Stephan Grigat) die Vorstellungskraft befreit und damit zur Befreiung des Einzelnen beizutragen vermag.

Brüder und Schwestern im Geiste?

Die Geschichte des Balthus-Gemäldes ist leider kein Einzelfall und kann in einen allgemeinen Kontext wachsender Zensur und geist- wie lustfeindlicher Prozesse gegen Kunst und Kreativität gesetzt werden. Erst vor ein paar Tagen meldete die Manchester Art Gallery, sie hätte JW Waterhouses Gemälde «Hylas und die Nymphen» von 1896 entfernt, um «Konversationen anzuregen», bevor sie es nach einem Sturm der Entrüstung in den sozialen Medien, in dem oft das Wort Zensur fiel, wieder aufhängte.

Das Interessante an diesen moralischen Aufrufen zur Zensur ist, dass sie nicht, wie man vielleicht erwarten dürfte, von der konservativ-rechtsextremen Seite kommen, die eine lange Geschichte mit Zensur vorzuweisen hat, sondern vielmehr von Feministen, Antisexisten und kulturrelativistischen Populisten. In einigen englischen Universitäten fordern manche Studenten gar ein Verbot der Lehren Kants und Platos, weil beide weisse Männer seien.

Auch an den Universitäten in den USA könnte der Ruf nach sogenannten «Safe Spaces» absurder kaum sein: So forderten Studenten ernsthaft, dass auf Büchern ähnliche Warnungen wie auf Zigarettenschachteln aufzudrucken seien, damit sie sich nicht als «Opfer» fühlen und ihre «Gefühle» nicht durch «rassistischen» oder «gewalttätigen» Inhalt verletzt würden. Dies schliesst einige Bühnenstücke Shakespeares und Romane von Virginia Woolf und Vladimir Nabokov ein.

Kritik ja, aber nicht aufgrund einer Wertebasis

Die Weigerung, Kunst zu zensieren, bedeutet jedoch nicht, dass Kunst heilig oder über jede Kritik erhaben ist. Im Gegenteil, es ist sogar notwendig, Kunstwerke zu kritisieren, zu diskutieren und Fragen und Debatten über sie anzustellen. Wir müssen dabei aber vorsichtig sein und dürfen nicht in die Falle tappen, die Werke auf der Basis von Werten und Standards der Gegenwart zu beurteilen. Sollten wir dies tun, müssten wir wohl den Grossteil der künstlerischen und philosophischen Archive der Welt zerstören. Und was wäre dann in den Regalen der Bibliotheken und an den Wänden der Museen zu finden? Gähnende Leere.

Eine letzte Frage: Wenn diejenigen, die mit ihrer Online-Fatwa ultimativ verlangt haben, das Gemälde der träumenden Thérèse sei zu entfernen, die Möglichkeit gehabt hätten, das Museum zu stürmen, hätten sie dann auch Hammer, Bohrer und Pickel dabeigehabt wie die Kämpfer des Islamischen Staats, als sie die Statuen in Syrien zerstörten?

Dieser Artikel ist am 2. 2. 2018 in der Basler Zeitung erschienen.

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