Selbsternannte Antirassisten kümmern sich nicht mehr um reale Untaten, sondern ziehen lieber über die Schuhe von Katy Perry und vermeintlich rassistische Emojis her. Hat sie der Mut verlassen? Klar ist: Mit ihrem Vorgehen spielen sie den Rassisten in die Hände.
Die Skandalisierung hat den Skandal ersetzt. Während in den Storys über Promis noch bis vor gar nicht allzu langer Zeit Aufstieg und Fall des Starlets interessierte, kümmern sich heutzutage die Mainstream-Medien am liebsten um Feminismus, Sexismus und Rassismus. Die Botschaft: Jeder ist nur einen Schritt davon entfernt, ein gefallener Engel zu sein. Das sorgt für ein Knistern auf der Höhe der Zeit.
Die Journalisten tun das zumeist in Arbeitsteilung mit empörten Aktivisten, die in den sozialen Netzwerken unterwegs sind. So ist eine Sexgeschichte allein kein Skandal mehr, aber wenn sie unter den MeToo-Feminismus fällt, dann schon. Und Lady Gagas Mode ist schon lange nicht mehr so interessant wie die kulturelle Aneignung von Katy Perry in ihrer Mode.
Die Tabloids von heute haben also eine neue Handelsware gefunden: Identitätspolitik. Deren Klientel besteht nicht mehr aus den langweiligen Teenagern und einsamen Hausfrauen, die einst die Klatschnachrichten konsumierten, sondern aus halbgebildeten Studenten und Stadtbewohnern der Mittelklasse.
Rassistische Mode
Der neueste Skandal handelt von der Pop-Sängerin Katy Perry. Sie soll in ihrer neuesten Schuhkollektion bei zwei Modellen ein rassistisches Design verwendet haben. Ein Paar Loafer und Sandalen aus ihrer Kollektion sollen – das ist der dürftige intellektuelle Kern der Hysterie – an das rassistische Blackfacing erinnern. Beide Schuhe sind in Schwarz gehalten, mit einem grossen, roten Schmollmund und blauen Augen versehen.
Nun ja. Medien und Aktivisten drehen auf, es wird schriller und schriller. Die Beschuldigte, die sich nichts dabei gedacht hat, entschuldigt sich wortreich, weil sie um Umsatzeinbussen (und ihren stets prekären Ruf) fürchtet. Die Statements sind bekannt: Sollte man die Gefühle von Y verletzt haben, so tue einem das unendlich leid. Und klar, Katy Perry nahm die Kollektion vom Markt, damit der Shitstorm, der über sie hinwegfegte, irgendwann endlich vorbei war.
So grotesk die Episode anmuten mag, so normal ist sie zugleich. Ein paar Wochen zuvor verkündeten etwa die Macher der Fernsehserie «Die Simpsons», dass sie die Figur des indischen Supermarktverkäufers Apu Nahasapeemapetilon nach Vorwürfen des Rassismus fallenlassen würden. Die Autorin Victoria Princewill betonte in einem Video der BBC, dass das Verwenden schwarzer Emojis und Memes durch weisse Menschen eine Art des digitalen Blackfacing und der kulturellen Aneignung sei – sie wies warnend darauf hin, dass schwarze Menschen nicht dem Vergnügen anderer dienen sollten.
Ein Autor der «New York Times» erkannte schliesslich im «Mary Poppins»-Film aus dem Jahr 1964 Rassismus. Die seelengute und selbstlose Nanny Mary Poppins würde angeblich «schändlich mit Blackfacing flirten», da sie während der berühmten Schritt-und-Tritt-Nummer ihr Gesicht mit Russ bedeckt: «Anstatt ihn abzuwischen, pudert sie forsch Nase und Wangen und wird dadurch sogar noch schwärzer», deliriert der Meinungsautor.
Weniger Diskriminierungen
Wenn alle von Rassismus reden, heisst dies nicht, dass der Rassismus auf dem Vormarsch ist – ganz im Gegenteil. Er ist auf dem Rückzug. Der Psychologe Steven Pinker zeigt dies in seinem Buch «Enlightenment Now» in erfreulich nüchterner Art und auf solider Zahlenbasis: Während zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Amerika rund drei rassistisch motivierte Lynchmorde pro Woche stattfanden, kommt ein solches schreckliches Verbrechen heute nicht einmal pro Jahr vor.
Der Harvardprofessor legt auch dar, wie die amerikanische Einstellung zu Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung in den letzten 25 Jahren einen grundlegenden Wandel in Richtung Toleranz und Respekt durchlaufen hat, während alte, weit verbreitete Vorurteile immer mehr verdrängt wurden. So etwa waren im Jahr 1987 noch fast 50 Prozent der Umfrageteilnehmer des Pew Research Center der Meinung, dass Schwarze und Weisse keine Beziehungen eingehen sollten, während im Jahr 2012 gerade noch ungefähr 10 Prozent dieser Auffassung waren.
Doch je mehr der Rassismus in den westlichen Gesellschaften verschwindet, desto lauter werden die Stimmen, die an jeder Ecke rassistische Motive erkennen wollen. So mancher gewinnt daher den Eindruck, dass wir immer noch in einer Welt lebten, in der auf Märkten Sklaven öffentlich gehandelt würden. Doch nichts könnte falscher sein. Es verhält sich gerade umgekehrt: Je weniger Rassismus stattfindet, desto mehr fallen rassistisch motivierte Taten auf – und desto weiter wird zugleich der Begriff des Rassismus von selbsternannten Aktivisten ausgedehnt, bis er irgendwann leer wird.
Während Ersteres einen Fortschritt darstellt, ist Letzteres durchaus bedenklich. Denn wer hinter jeder dümmlichen Geschmacklosigkeit eine rassistische Schandtat wittert, der trivialisiert den Begriff und spielt damit den echten Rassisten in die Hände.
Der reale Rassismus wird ignoriert
Die Rassismus-Fabrik der Political Correctness läuft auf Hochtouren. Mittlerweile zählt die Kritik am Islam ebenso dazu wie die Forderung, die Migration zu begrenzen. Um als Rassist dazustehen, reicht mittlerweile der Vorwurf des Rassismus im Namen des Antirassismus. Das zieht immer – wenigstens vorläufig. Denn der inflationäre Gebrauch führt dazu, dass sich immer mehr Leute von der Thematik abwenden.
Wenn der Eindruck nicht täuscht, so nimmt die Zahl der Leute, die sich solche Shitstorms als antirassistisches Verdienst auf die Fahne schreiben, laufend zu. Das ist eine zweifellos bedenkliche Entwicklung.
Leider entscheiden sich die westlichen Social-Media-Aktivisten für das falsche Schlachtfeld in ihrem Kampf gegen den Rassismus. Es wäre sinnvoller, ihre Wut darauf zu verwenden, die ethnische Diskriminierung und Sklaverei in repressiven Staaten zu bekämpfen: So gibt es etwa den mauretanischen Blogger und Sklavereigegner Mohamed Cheikh Ould Mkhaitir, der wegen Beleidigung des Islams im Gefängnis landete. Oder den Menschenhandel mit afrikanischen Migranten in Libyen, der 2017 durch CNN aufgedeckte wurde.
Ganz zu schweigen von der rassistischen Diskriminierung, unter der Millionen Armenier, Kurden und Berber in Gesellschaften mit arabischer Mehrheit leiden. Stattdessen erfindet die westliche Rassismus-Fabrik einen künstlichen Kampf gegen Katy Perrys Schuhe oder die kulturelle Aneignung in Hollywood.
Imaginäre Kämpfe
Die Rassismus-Obsession ist eine logische Folge der Identitätspolitik. Wenn die sexuelle oder ethnische Identität die einzigen Bestimmungsgrössen einer Person sind, können nur Zwiespalt und Konflikte entstehen, die sich immer weiter vertiefen. Die Farben oder Namen, die mit einer bestimmten Rasse oder einem bestimmten Geschlecht zusammenhängen, werden plötzlich zu ideologisch getriebenen Konzepten, die in imaginären politischen Kämpfen zum Einsatz kommen. Das macht es umso schwerer, Fälle tatsächlicher Diskriminierung ausfindig zu machen, wie etwa die Verweigerung von Schulbildung, Anstellung oder politischen Rechten aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit.
Wer heute gegen Rassismus kämpft, muss deshalb die Identitätspolitik selbst ins Visier nehmen. Sie hat das Rassenthema wieder neu ideologisiert und politisiert – sei es unter dem Deckmantel des Antirassismus oder im Namen der weissen Vorherrschaft. Diese Denkart führt zu einer Abkehr von universellen Werten – und zum Verrat an Martin Luther Kings Traum von einer Welt, in der «Menschen nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem persönlichen Charakter beurteilt werden». Eine Rückbesinnung auf die universelle Position von Luther King ist gerade heute in Zeiten der Rassismus-Trivialisierung so bedeutsam wie nie zuvor.
Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen