Die mohammedanische Religion war in ihren frühen Jahren eine Reformbewegung par excellence. Mohammeds Botschaft zielte nicht nur darauf ab, die Polytheisten von Mekka, sondern auch die Juden und die Christen zum «reinen» Monotheismus zurückzuführen. Denn von diesem hatten sie sich entfernt, wie Mohammed verkündete.

Die meisten der Reformbewegungen, die in der islamischen Welt bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts auftraten, bleiben dem Prinzip der Rückkehr zu den Grundlagen (Koran und Sunna) treu. Ihr Ziel war es, den Islam von Abweichungen zu säubern. Die wichtigsten Vertreter dieser traditionellen reformistischen Strömung sind Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703 bis 1792) und Muhammad Ahmad (1844 bis 1885).

Ersterer war der Begründer jener Strömung, die heute als Wahhabismus bekannt ist, Letzterer hat den Mahdismus im Sudan etabliert. Beide Bewegungen setzten sich trotz ihren doktrinären Unterschieden für die Errichtung fundamentalistischer Gesellschaften ein, die die Prinzipien des islamischen Rechts übernahmen. Wer dieses Recht verletzte, sollte liquidiert werden.

Einige Historiker vergleichen das wahhabitische Modell mit den Vorstellungen des Reformators Johannes Calvin: Ein radikaler Puritanismus soll das Privatleben der Menschen bestimmen – ein Puritanismus, der sich auf die offenbarte Wahrheit und das göttliche Gesetz besinnt und keine Abweichler duldet.

Liberale Reformer sind ein elitäres Phänomen geblieben

Zu Beginn des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden in der islamischen Welt neue Reformbewegungen, deren bedeutendste Vertreter Jamal al-Din al-Afghani, Muhammad Abdo und Muhammad Iqbal waren. Sie zielten ebenfalls auf eine Rückkehr zu islamischen Texten ab.

Dies allerdings aus anderen Gründen: Neue Interpretationen religiöser Texte sollten die Religion mit der modernen Wissenschaft und den politischen Theorien über Demokratie und Menschenrechte versöhnen. Diese Reformbewegung stiess jedoch bei den meisten Muslimen auf wenig Anklang. Sie ist bis heute ein elitäres Phänomen geblieben, das nur die Aufmerksamkeit einiger gebildeter Kreise auf sich zieht.

Auch heute, wenn es um Demokratiedefizite und fehlenden Schutz der Menschenrechte in muslimischen Ländern geht oder um islamistisch motivierten Terrorismus, weisen einige Experten gern auf die Notwendigkeit religiöser Reformen im Islam hin. Als brauchte es einen muslimischen Messias, dessen Ankunft alle Probleme und Herausforderungen lösen würde.

Das Hauptproblem, das diejenigen ignorieren, die nach Reformen rufen, ist jedoch das Reformkonzept selbst. Der Versuch, religiöse Texte zu interpretieren, um die Religion zur Akzeptanz der Werte der Menschenrechte und der Demokratie zu drängen, zielt letztlich nur darauf ab, Konzepte des modernen Staates zu islamisieren. Auf diese Weise jedoch beherrscht die Religion weiterhin alle Aspekte des modernen Lebens.

Das politische System wird so zur Geisel geistlicher Autoritäten, die jede Veränderung für illegitim halten, solange sie nicht religiös begründet werden kann. Frauenrechte zum Beispiel würden dann nicht als universelle und unteilbare Rechte betrachtet. Stattdessen würde man sich in hermeneutischen Diskursen verlieren, in denen immer wieder die fundamentalistische Auslegung triumphieren dürfte.

Moderne Lesearten sind nutzlos

Der verstorbene tunesische Präsident Beji Caid Essebsi war sich dieses Dilemmas sehr wohl bewusst. Als er die erbrechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen unterstützte, zitierte er weder religiöse Texte, noch versuchte er sie zugunsten des Gleichheitsprinzips zu interpretieren. Er sagte lediglich: «Wir haben es nicht mit der Religion oder dem Koran zu tun, sondern mit der Verfassung des Staates.»

Viele tunesische und ausländische Islamisten betrachteten diese Position natürlich als Angriff auf islamische Werte. Diese Auffassung hat allerdings bereits vor mehr als drei Jahrhunderten Eingang in die politische Theorie gefunden, durch John Lockes Abhandlung über Toleranz. Locke betonte wie der frühere tunesische Präsident die Notwendigkeit, Zivilrecht und Religion zu trennen.

Auf die Frage, weshalb religiöse Texte nicht Teil des Gesetzes sein sollten, gab der Philosoph folgende Antwort: Die zivile Autorität ist dafür verantwortlich, die Rechte und Freiheiten des Einzelnen zu garantieren. Die Religion ist hingegen für die religiöse Wahrheit und die Erlösung im Jenseits zuständig.

Der tunesische Ex-Präsident Beji Caid Essebsi hat nicht nur die Notwendigkeit dieser Trennung zwischen Zivilrecht und Religion betont. Er weiss auch wie kaum ein anderer, dass moderne Lesarten der Koran-Texte nutzlos sind, um die Ungleichheit zwischen Frauen und Männern zu überwinden – so liberal diese Auslegungen auch sein mögen. Denn zu jeder liberalen Lesart eines problematischen religiösen Textes gibt es auch eine andere, fundamentalistische Lesart, die erstere stets zu negieren droht.

Aus diesem Grund kann die liberale Exegese die wörtlichen Lesarten nicht ersetzen. Sie trägt lediglich zu deren Legitimität bei, indem sie Religion als Gesetzgebungsquelle übernimmt. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, muss deutlich betont werden, dass der moderne Staat nicht über die Religion herrschen oder ihr politisches Wörterbuch übernehmen darf.

Die islamische Welt braucht einen Nietzsche

Vielmehr müsste der Staat die Religion aus der Politik entfernen, indem er sie auf ihre natürliche Sphäre beschränkt, die eine individuelle spirituelle Beziehung ist. Der Grundsatz, wonach die politische Sphäre allen, religiösen und nicht religiösen Menschen, offensteht, bleibt davon unangetastet.

In Sigmund Freuds «Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse» spricht der Begründer der Psychoanalyse von den drei narzisstischen Wunden, die den modernen Menschen schmerzen: Kopernikus zeigte ihm, dass der Mensch nicht der Mittelpunkt des Universums ist; Darwin eröffnete ihm, dass der Mensch vom Tier abstammt, und die analytische Psychologie offenbarte ihm schliesslich, dass ihn das Unbewusste prägt.

Infolge dieser Kränkungen hat die Religion viel von ihrer Anziehungskraft verloren, die der menschlichen Existenz einen Sinn gibt. Folglich zog sich ihre politische Autorität im Westen zurück, was durch den demokratischen Säkularismus kompensiert wurde. Der Religion blieb nur noch ihre spirituelle Autorität, zu der nur der Gläubige verpflichtet ist.

Deshalb benötigen islamische Gesellschaften heute keine religiösen Reformer, die Modernität und Menschenrechte weiterhin der Autorität der Religion unterordnen. Die Muslime brauchen mutige Frauen und Männer, die ihnen aufzeigen, was im Westen geschehen ist. Religion, das müsste ihre Botschaft sein, kann sicherlich die spirituelle Erfahrung des Einzelnen bereichern. Sie kann jedoch keine politischen oder wissenschaftlichen Theorien legitimieren.

Die islamische Welt braucht also weniger religiöse Reformer wie Luther und Calvin, sondern Denker wie Friedrich Nietzsche. Dieser brillante Philosoph war der Erste, der darauf hinwies, wie religiöse Reformen die europäische Renaissance behinderten: In dem Moment, als sich Künstler und Wissenschafter von der Autorität des Christentums zu befreien begannen, arbeitete Luther gegen den Lauf der Geschichte an – mit dem Ziel, das Leben des Christentums zu verlängern.

Diese nietzscheanische Diagnostik ist in gewissem Masse auf die heutige muslimische Welt anwendbar. Immer dann, wenn liberale Stimmen Freiheit und Menschenrechte fordern, treten «Reformer» auf, die letztlich nur zurück in den Irrgarten der Religion wollen.

«Religion ist für Gott, und das Vaterland ist für alle»

Wenn eine Mehrheit der Muslime erkennt, dass Religion nur das Individuum, nicht aber die Politik betrifft, wird «Reform» ein Thema sein, das nur noch die Gläubigen angeht. Der Staat hat kein Recht, den Gläubigen zu sagen, wie sie ihre Religion verstehen sollen. Ebenso wenig hat der religiöse Mensch ein Recht darauf, dem Staat und der Gesellschaft seine Überzeugungen aufzuzwingen.

Es gibt einen zeitlosen arabischen Satz, der 1919 von den ägyptischen Revolutionären gegen die britische Besatzung und 1925 von den syrischen Revolutionären gegen die französische Besatzung übernommen wurde: Religion ist für Gott, und das Vaterland ist für alle. Diese Formulierung ist heute auch von arabischen Säkularisten zu hören. Sie genügt, um die islamische Welt vom byzantinischen Geschwätz des 15. Jahrhunderts (religiöse Reform) zu befreien – und eine moderne, säkularisierte Welt zu begründen.

Dieser Artikel ist zuerst in der NZZ erschienen

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