Die Betreuung von Flüchtlingen, die seit dem Spätsommer 2015 als Folge des staatlichen Kontrollverlusts etwa in Deutschland zunehmend deprofessionalisiert und daher oft Privaten überantwortet wurde, ist vor allem von vielen Menschen mit viel Engagement übernommen worden. Das war nicht nur verdienstvoll, sondern in einer solchen prekären Situation auch bitter nötig. Allerdings ist die Aufnahme von Vertriebenen bei nicht wenigen sich selbst als human und weltoffen verstehenden Städtern in Westeuropa zu einer Art sozialen Prestigefaktors avanciert. Ein Flüchtlingshelfer schrieb in der «taz», dass die Gespräche seiner Freunde, von denen manche einen syrischen Flüchtling bei sich zu Hause aufgenommen haben, oft wie folgt begännen: «Unser Flüchtling hat gestern . . .»
Dergestalt nimmt das Reden nicht mit dem einzelnen Flüchtling, sondern über Flüchtlinge als nicht selten kulturrelativistisch zugerichtetes Kollektiv bei dieser urbanen Schicht eine Form an, als ob nicht von Menschen, sondern von Haustieren die Rede wäre, zunehmend auch dem Gehalt nach. Fritz Breithaupt, Kulturwissenschafter mit Schwerpunkt Empathieforschung, dachte in der Zeitschrift «Philosophie Magazin» in diesem Zusammenhang über die Frage nach, ob das Motiv bei zahlreichen Flüchtlingshelfern tatsächlich Empathie mit den Flüchtlingen gewesen sei – oder ob nicht vielmehr die Identifikation mit Helfern und Vorbildern im Vordergrund gestanden habe.
Moralisches Gütesiegel
So jedenfalls regrediert eine gutgemeinte Willkommenskultur zu einem identitätspolitischen Gütesiegel wie zum Beispiel «vegan», das dessen Träger als einen moralisch einwandfreien Freund der offenen, ehrenwerten Gesellschaft ausweist. Die Anzahl Flüchtlinge in einer Stadt wird so zum Gradmesser dafür, wie offen und humanistisch sie ist. Dies macht den Asylstatus letztlich nicht zu einem vorübergehenden, der überwunden werden sollte mit dem Ziel der Integration des Flüchtlings als gleichwertiger Bürger mit Rechten und Pflichten – wozu nicht zuletzt die Einhaltung der Rechtsordnung des jeweiligen Staates und der universell gültigen Menschenrechte zählt. Vielmehr wird dadurch die Zahl der beherbergten Flüchtlinge zu einem politischen Selbstzweck: je mehr Flüchtlinge, desto bunter. So vermittelt dieses spezifische Verständnis von Willkommenskultur ihren Anhängern das Gefühl einer moralischen Überlegenheit gegenüber allen, die Zweifel anmelden oder Fragen zur nicht immer einfachen Integration von Flüchtlingen aufwerfen.
Zu einer humanen Tradition gehört es, Menschen zu helfen, die an Leib und Leben bedroht sind. Freilich liegt das Problem der Solidarität in deren Widersprüchen begründet. Nicht selten verbannen nämlich Freunde der Flüchtlinge den Begriff der Kritik aus ihrem Verständnis der Solidarität, wenn sie jegliche – auch berechtigte – Einwände gegen kulturelle Eigenheiten oder das religiöse Verhalten ihrer Schützlinge verbieten und als rechtspopulistisch, islamophob oder quasifaschistisch denunzieren. Man kann, so ihre Argumentation, das Opfer des Imperialismus nicht kritisieren, weil die Kritik dem Prinzip der internationalen Solidarität zuwiderläuft. Doch eine Solidarität, die Zweifel und Kritik a priori ausschliesst, ist keine.
Shitstorm in Lausanne
Dies musste unlängst in Lausanne auch der linke Filmemacher und Sohn spanischer Einwanderer Fernand Melgar erfahren, der in der Romandie kontroverse Diskussionen ausgelöst hat. Aufgrund seiner Kritik an Flüchtlingen, die in seinem Lausanner Quartier Drogen verkaufen, haben linke Kulturschaffende ihn als Rassisten und Faschisten beschimpft.
Indem gewisse Flüchtlingshelfer justiziables Verhalten von Flüchtlingen vor Kritik immunisieren, arbeiten sie letztlich gegen die Integration von Flüchtlingen in ihre neuen Gesellschaften. Was bedeutet, dass der Flüchtling nicht als verantwortungsvolles, unabhängiges, eigenständiges Individuum behandelt wird, sondern als jemand, der immerzu einer verfolgten Minderheit angehört und dauerhaft der Pflege und des Schutzes bedarf.
Der syrische, in Deutschland lebende Schriftsteller und Flüchtling Sami Alkayial schrieb: «Für die westliche Linke sind alle Flüchtlinge ‹Opfer›, und wenn die Linke von ‹kultureller Toleranz› spricht, dann ist es die Kultur des ‹männlichen muslimischen Heterosexuellen› oder, genauer gesagt, der kulturelle Rahmen, der diesem männlichen Favoriten Platz gibt.» Was der linke Schriftsteller hier sagt, ist genau das, wovor der Philosoph Slavoj Žižek warnt; nämlich die Verleugnung der Existenz kultureller, religiöser und sozialer Probleme und Herausforderungen unter den Flüchtlingen, wenn die Linke ihr Engagement für die Rechte von Frauen, Homosexuellen und Minderheiten innerhalb der Minderheiten aufgibt.
Rechter Kulturrelativismus
Gleichzeitig versteht es sich von selbst, dass die Kritik am kulturellen oder religiösen Verhalten eines Flüchtlings rassistische oder fremdenfeindliche Motive haben kann. So wird etwa die Kritik der extremen Rechten, beispielsweise der AfD, gegenüber fremden Kulturen oft keineswegs in emanzipatorischer Absicht oder im Interesse universaler Werte geübt. Vielmehr handelt es sich dabei häufig um eine Art «ethnopluralistischen Kulturrelativismus» (Hartmut Krauss), dessen Position sich folgendermassen umreissen liesse: «Wir haben nichts gegen fremde, patriarchalische Kulturen, wir wollen sie aber nicht in unserem Land.» Ein Liberaler sollte sich gegen beides wehren, indem er sowohl den Kulturrelativismus mancher Linker als auch den Ethnopluralismus mancher Rechter kategorisch ablehnt.
Dieser Artikel ist am 22. Juni 2018 in der NZZ erschienen.