Zum #1august hat die NZZ am Sonntag sechs Schweizer “Kulturschaffende” befragt, was die Schweiz für sie bedeutet. Meine Antwort lautete:
«Du hast die Schweiz noch nicht ganz kapiert!», sagen mir Schweizer Freunde von rechts bis links, wenn wir über die Politik streiten. «Es möge/dürfte/könnte sein, dass du, lieber Freund, recht hast, aber…» erwidere ich. In der Schweiz muss man immer einen Raum für den Zweifel lassen, darum färben die Schweizer ihre Sätze oft mit Konjunktiv 2.
Vielleicht haben sie recht. Aber wer versteht die Schweiz schon vollkommen? Und über welche Schweiz rede ich nun? Ist das die Schweiz, die ich als linker Aktivist in Marokko kannte und die ich mit meinen Genossen während unserer Anti-Korruptions-Proteste gebetsmühlenartig beschuldigte, das gestohlene Geld unserer korrupten Politiker zu verstecken?
Oder die Schweiz, die mir von meinen antikapitalistischen Genossen empfohlen wurde, um politisches Asyl bei ihrer Botschaft in Marokko zu beantragen? Oder vielleicht das Land, das mein alter Genosse Guevara einmal den «Kopf des kapitalistischen Monsters» nannte? Dasselbe Monster, das mir das Recht auf Sicherheit und Freiheit als Flüchtling garantierte? Oder ist es die Schweiz, die ich heute als neuer Bürger kenne und politisch gestalten möchte?
Ich kann diese Fragen nicht beantworten, aber eines ist sicher: Meine Schweiz ist ein schöner Widerspruch. Glücklicherweise sind Widersprüche aber nicht selten ein Zeichen für Vielfalt und Vitalität. Sicher ist auch, dass ich zu diesem Land gehöre und es auch zu mir gehört.
Allerdings lässt sich unsere gegenseitige Zugehörigkeit nicht durch die Farbe meines Passes (früher war er grün, heute ist er rot) oder meinen Heimatort (gestern ein kleines Dorf in Marokko, heute ein kleines Dorf namens Huttwil) bestimmen, sondern durch den Glauben an eine Idee, nämlich die Werte der Aufklärung und der universalen Menschenrechte anstatt des Kulturrelativismus mancher Linken oder der «nationalen Borniertheit» (Marx) mancher Rechten.
Ohne diese Werte gäbe es die Schweiz von heute nicht, ohne diese Werte wäre es nie möglich gewesen, dass sich ein militärisches Bündnis im Laufe der Geschichte zu einer prächtigen viersprachigen Nation entwickelte.
Als ich Ende letzten Jahres von der Polizei betreffend meines Einbürgerungsgesuches eingeladen wurde, erzählte ich am Ende unseres Gespräches, dass ich mich sehr auf das Ergebnis des Verfahrens freue, dass es allerdings nicht viel ändern wird. Ich brauche keinen Pass, der mir bestätigt, dass ich mit der Schweiz verbunden bin. Das Schweizer-Sein kann nicht auf ein Stück Papier reduziert werden. Meine Schweiz ist ein Wertebewusstsein, eine Geschichte und eine Verantwortung.